Sonntag, 27. September 2020

gemeinsam einsam

In letzter Zeit spielt unsere geistige Gesundheit eine große Rolle. Freitag vor einer Woche hatte ich wahrscheinlich einen leichten Nervenzusammenbruch . Der Anlass war gar kein grissrr: Otto war beim sitzen umgefallen, leicht auf den Kopf. Die offizielle Anweisung ist mit dem Kind zur Notaufnahme zu fahren. Das hieß, dass ich Freitag Nachmittag nicht mehr arbeiten konnte und damit bin ich überhaupt nicht klargekommen. Die Untersuchungen verliefen dann relativ zügig und haben natürlich nichts gefunden, aber ich konnte mich den ganzen Tag nicht mehr einfangen. Ich konnte nur daran denken, dass beruflich und privat ohnehin viel zu viel zu tun war und jetzt überhaupt keine Chance mehr bestand, das aufzuholen.
Abends spürte ich, dass mein Geist völlig aufgeregt war und später machte mein Körper komische Sachen; mir war kalt und ich hatte das Gefühl, dass jeder Gedanke zuviel Kraft erforderte. Da habe ich mir dann Gedacht, dass das nach einer Art Nervenzusammenbruch klingt.
Der Tag selbst kann nicht allein der Auslöser gewesen sein; es müssen die Monate davor gewesen sein, die meine Reserven verbraucht hatten. Konkret das ständige Gefühl, nichtmal mit den allernötigsten Aufgaben hinterherzukommen. Ich hab dann entschieden, nur noch zu machen, worauf ich Lust habe ohne über die Konsequenzen nachzudenken.
Heute waren Ellies Vater mit Frau da, und abends unsere Freundin Claire. Dabei habe ich gemerkt, dass sich mein ganzen Grundgefühl verbessert hat. Es ist also inzwischen auch so, dass mir ganz einfach ein Sozialleben fehlt. Stimmt ja auch, wochenlang bin ich wochentags gar nicht aus dem Haus gekommen und auch heute kriege ich maximal eine dreiviertel Stunde nach der Arbeit. Und das unabhängig von irgendwelchen Viren. Also versuche ich jetzt mehr Menschen zu sehen.
Da kommt uns gelegen, dass wir inzwischen alle diese Probleme haben. Ich spreche die meinen ganz bewusst offen an, weil es die meisten Leute in unserer Umgebung nicht machen. In den letzten zwei Wochen haben wir von einem weiteren Fall in unserer Elterngruppe erfahren, wo einem die Haare zu Berge stehen - aber gesprochen wir darüber nur unter vier Augen. Und mit wem ich es auch beredet, Freunde und Kollegen, sogar die die man für besonders stabil hält, alle bestätigen, dass auch sie zu merkwürdigen Einsiedlern werden, die nicht mehr normal mit anderen Menschen sprechen können. Und alle sind ganz dankbar für irgendwelche Einladungen. Außerdem merke ich einen Unterschied zwischen den Generation. Ellies Papa machen sich auch große Sorgen um uns. Darum sage ich mal ausdrücklich: wir sind nicht auf dem Weg in die Nervenklinik. Es passieren viele schöne Dinge.

Vor einigen Wochen waren wir zu dritt am Meer unterwegs und als Ottos Schlafenszeit kam, meinte Ellie, sie könnte ihn ja allein nach Hause nehmen und später wieder zu mir stoßen. Dadurch hatte ich einen ganzen Nachmittag draußen am Meer in der Sonne, wofür ich sehr dankbar war. Ich bin sogar kurz schwimmen gegangen.
Am vergangenen Sonntag sind wir mit Otto auf den Berg über Portsmouth gefahren und haben ihm gezeigt, wie groß die Welt wirklich ist. Ich nehme ihn dazu auch regelmäßig mit ans Meer. Er sitzt dabei immer auf meinem Arm und guckt, als machte ihm etwas ganz große Sorgen. Aber inzwischen denke ich, dass er ganz einfach völlig verblüfft von der Weite ist. Er kann inzwischen Vogel im Flug erkennen und letztens haben wir im Garten eine Taube beobachtet, die Beeren aus dem Busch gepickt hat. Ich bin so froh, dass er daran Interesse zeigt, weil ich ihn im nächsten Frühling endlich in die Natur nehmen will. Seine unteren Schneidezähnchen kommen durch und er ist sein Frühstück mit Gusto; in sehr kurzer Zeit hat er praktisch aufgehört sich zu verschlucken und er mäkelt über gar nichts.

Kleiner Wichtel am großen Meer
Fliegende Wichtel auf dem Berg

2008 in Breslau


Samstag, 12. September 2020

Otto und Oma

Letzte Woche war Mutti hier und hat uns so etwas wie Urlaub beschert. Ich hatte mir die ganze Zeit freigenommen und sie hat richtig angepackte. Der Unterschied, den ein weiteres paar Hände und Muttererfahrung macht, war wirklich jede Minute zu spüren. Dass man einfach ein paar Aufgaben deligieren kann und tatsächlich auch mal ein paar Momente frei hat. Diesmal habe ich mich nicht beschwert, dass sie das ganze Haus auf Vordermann gebracht hat. Sie hat uns durch die Entlastung bei den Alltagsarbeiten vieles lange vernachlässigtes möglich gemacht. Ich war beim Friseur, Garten und Dachboden wurden geräumt, mehrere Säcke zu klein gewordener Babysachen wurden zur Spende gebracht, ein Elektriker wurde bestellt um sich um seit zwei Jahren kaputtes zu kümmern. Ottos neues, größeres Bett wurde zusammengebaut, denn Otto wächst. Es gab mir endlich wieder ein Gefühl von Fortschritt und Veränderung das mir in der Routine vorher so fehlt hatte.


Leider konnten wir Mutti gar nichts besonderes zum Dank anbieten. Allein auf ein Pimms im Hafen konnten wir sie einladen und auch das war an die zwei Stunden gebunden, die Otto zwischen Nickerchen wach sein kann.


Besonder schön war, dass wir angefangen haben, am späten Nachmittag, in seiner letzten Wachzeit, mit Otto ans Meer zu gehen. Seine rasante Entwicklung ist auch daran zu sehen, dass man das jetzt mit ihm machen kann. Ich habe entdeckt, dass er es richtig lange dort aushält. Für mich ist das eine große Sache, denn das Meer tut mir sehr gut. Der Raum und die frische Luft sind das genaue Gegenteil des Hauses, aus dem ich über Monate kaum gekommen war.


Muttis Besuch war auch zeitlich glücklich gewählt, denn Otto hatte nach einigen traumhaften Wochen eine etwas schwierigere Zeit, in der er schlechter schlief, ab und zu wieder nächtliche Fütterungen und tagsüber mehr Aufmerksamkeit brauchte. Es war klar, dass er wieder eine Entwicklungsphase durchlief und da war Hilfe sehr willkommen.


Emotional ging in mir in dieser Woche viel durcheinander was auch nicht leicht zu formulieren ist. Am Ende blieb wieder einmal vor allem Bedauern. Dass Otto seine Oma nicht jeden Tag sehen kann, dass ich meine Familie so selten sehe, dass das jetzt auf Jahre noch schwieriger wird. Dass wir nicht alle zehn Jahre jünger sind.


Ottomobil

Ansonsten ist auch viel los:

Otto entwickelt sich rasant. Seine Entwicklungssprünge sind auch ganz erstaunlich plötzlich. Als ich ihn am Abend nach Muttis Abfahrt ins Bett legte, fing er auf einmal an sich auf den Bauch zu rollen. Monatelang hatte er daran gearbeitet, jetzt war es da - dass also hatte sein kleiner Kopf die Tage vorbereitet. Er hat dann weiter viel geübt, besonders nachts, wodurch jeweils einer von uns aufpassen musste, dass er nicht auf seinen Atemwegen liegen bleibt. Inzwischen dreht er sich wie ein Profi, stützt sich auf den Händen ab und probt eindeutig, wie man sich mit den Füßchen vorwärts schieben könnte. Dann fing er auf einmal an, mehr und mehr zu sitzen. Innerhalb weniger Tage hatte er gelernt, sich selbst aufrecht zu halten.

Er mag klickende Geräusche, z.B. wenn man Steine am Strand wirft, die ihm vor Kurzem noch Angst gemacht hatten.



Otto ist jetzt offizielles Mitglied bei Union Berlin. Kann dann seinem Papa Karten besorgen.



Wir haben dann einfach mal ausprobiert was passiert wenn wir ihm Essen vorlegen. Die letzte Wochen steckt er sich ja schon alle sin den Mund was nicht niet- und nagelfest ist. Und wie erwartet lernt er ganz schnell zu essen. Die Milch wird dadurch nicht ersetzt, er kann sich einfach schon mal an festes Essen und den Geschmeck gewöhnen. Ich habe dann den Hochstuhl zusammen gebaut und plötzlich essen wir jeden Morgen als Familie Frühstück, einfach weil es am praktischsten ist. Ellie und mir tut das richtig gut. Vorher hatte ich ja immer schnell vorm Computer gegessen. Brei ist übrigens nicht dabei, das wird hier drüben wohl nicht mehr gemacht.


Nachts isst Otto normalerweise nicht mehr. Er pullert auch kaum noch ein, seit wir ihm richtige Windelhosen besorgt haben. All das macht unser Leben einfacher.

Ich habe auch wieder so etwas wie ein Leben. Seit einiger Zeit lese ich abends wieder ein bisschen. Die letzten Tage habe ich die Geschichten von Sindbad dem Seefahrer gelesen. Ich lerne für Otto weiter weiter Volks- und Kinderlieder. Als letztes die gesamte Vogel Hochzeit und das Lied von Dornröschen. Wer wusste, dass Tochter Zion englischer Herkunft ist? Geschrieben von Händel. 

Ich habe den letzten Busch im Garten identifiziert. wir haben: Budelaia, Feuerdorn, Kohuhu, Heckenkirsche und Säckelblume. So klein war meine Welt geworden, dass mich das interessiert hat, wenn ich Otto in den Garten nehme.

Leider ist die Sonderregelung meines Arbeitgebers ausgelaufen, die mir lange Zeit erlaubt hatte, Ellie mittags Otto eine Stunden lang abzunehmen. Gottseitdank ist er jetzt einfacher. Trotzdem machen wir alles, was uns Zeit spart. Zum Beispiel haben wir angefangen, uns unseren gesamten Wocheneinkauf liefern zu lassen, was insbesondere mein Wochenende entlastet.

Donnerstag, 3. September 2020

Ungefähr die letzten sieben Tagen war es mit Otto etwas schwieriger als in den wunderbaren Wochen davor. Wahrscheinlich hatte er irgendwas mit dem Magen - eine Menge Magensäure kam hoch, eine Menge Reflux. Was genau haben wir nicht rausgekriegt, aber es scheint sich wieder einzurenken.

Dadurch war unser Leben wieder schwieriger, insbesondere nachts. Durch rollen und schaukeln rotiert er langsam im Bett bis er eine Wand findet gegen die er dann arbeitet. Manchmal dreht er sich im Schlaf um 180 Grad und man wacht neben dem Kopf auf, wo abends noch die Beine waren. Natürlich wacht er dabei regelmäßig auf und braucht Fürsorge. Symptomatisch für unseren Zustand war, dass es eigentlich nicht schlecht war, verglichen zu den ersten drei Monaten sogar richtig gut, aber wir hingen nach der ersten kurzen Nacht sofort wieder in den Seilen, weil wir keine Reserven haben. Das merke ich in der Arbeit und auch im Umgang mit einander. Nichts wirklich schlimmes, aber man hat weniger Geduld und schnappt verbal eher mal um sich als man es normalerweise tun würde.

Aufgelockert wurde das durch mehrere Treffen mit Freunden von Ellie. Meistens in unserem neuen Stammcafe um Park um die Ecke und letzte Nacht hat Ellies alte Unifreundin Zosia bei uns übernachtet. Das ist die, die ursprünglich in London gewohnt hatte und dann nach Hastings umgezogen war, wo wir sie vor Ewigkeiten besucht hatten. Sie hat zwei Kinder und war eine willkommene Hilfe.

Ich habe dabei bemerkt, dass die Abfahrt von Gästen mich zum ersten Mal so traurig macht, wie ich es sonst nur von anderen Menschen kenne. Die kurze Unterbrechung der ewigen Routine ist so erfrischend. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich psychisch immer noch nicht zurück beim Alten bin. Ich vermute, die eigentliche Ursache ist der Schlafentzug. An der Oberfläche wirkt das dass dann durch den ewig gleichen Tagesablauf, der gerade für mich so ungewohnt und unwillkommen ist. Das man nie mehr schafft als die tagesaktuellen Aufgaben; nie zu weiterreichenden Projekten kommt, die Abwechslung bringen könnten. Dann ist da der Stress, zwischen Arbeit und Hilfe für Ellie beim Kinderhüten prioritisieren zu müssen. Ich muss ab und zu nein sagen, aber ich habe auch bei besten Gründen jedes Mal ein schlechtes Gewissen. Dass man praktisch nie einfach fünf Minuten für sich hat, sondern jeder Moment schon morgens durchgeplant ist.

Momentan sieht unser Alltag so aus: an guten Tagen stehen wir um sieben auf. Bis neun bespaße ich Otto, dann arbeite ich. Gegen eins frage ich mich, wo die erste Hälfte des Tages geblieben ist. Gegen zwei schlafe ich fast auf der Tastatur ein. Kurz nach vier wache ich langsam wieder auf, aber dann ist half sechs schon wieder Zeit Otto zu baden. Um acht komme ich aus seinem Schlafzimmer und will eigentlich endlich nötige langfristige Dinge abarbeiten. Sagen wir mal einen neuen Stromanbieter, oder eine Anlage für das ganze Geld was man Otto schenkt, oder die Anreise zu Muttis Geburtstag. Meistens streikt der Kopf aber sobald ich ihn benutzen will und man versackt vor dem Fernseher. Dann hat man einen Tag hart gearbeitet, nur um es gleich nochmal machen zu dürfen. Irgendwann hat man dann alle anderen Pläne so oft "auf morgen" verschoben, dass man es nicht mehr glaubt. Es ist dieses Gefühl, dass mein Alltag völlig von den Umständen bestimmt wird und nicht von mir, das mir zusetzt.