Dienstag, 30. April 2013

April sollte der ruhige Monat vor dem möglichen Besuch Kasias sein. Kasia ist am Ende nicht gekommen, und der April war nicht ruhig. Mit jedem Tag Sonne ergibt sich mir mehr mehr das Dilemma, zuviele Pläne in zuwenig Zeit zu stecken. Der Sommer hat noch nicht richtig begonnen und ist schon ausgeplant.
Das letzte Mal hatte ich von der Reise nach Birmingham geschrieben, der letzten dorthin wie sich im Laufe des Monats erwies. Eine Woche lang habe ich danach erstmal liegengliebenes machen müssen. Aber am ersten Wochenende habe ich mit Mathieu und seiner zugereisten Schwester an einem der ersten schönen Tage zum ersten Mal in meinem Leben Golf gespielt. Das geschah am ersten wirklich schönen Wochenende. Seitdem geht es zwar bergauf bergab mit dem Wetter und der Wärme, aber das Frühlingsgefühl ist hier. Wie spielten auf einem kleinen Golfplatz ganz nah bei mir und damit direkt am Meer, und bei dem Wetter eine Erfahrung, die ich gerne wiederholen wollte, aber bisher nicht geschafft habe, denn es gibt viel zu viel zu tun. Gleich am Folgetag traf ich mich an gleichem Ort zum zweiten Frühstück mit den Mitglieder einer meiner Tanzgruppen. Die zeigten mir auf einem Spaziergang, das ebenso nah bei mir, gleich neben dem Ententeich, ein mir völlig unbekannter Rosengarten ist, der gerade mit dem Blühen beginnen sollte. Ebenso ist dort seit kurzem ein Gemeinschaftsgarten, und dort kann ich ohne Anmeldung jederzeit mal hinfahren und eine Stunde umgraben; ein guter Start in ein sonniges Wochenende. Auch ins Zimmer habe ich den Frühling geholt und mir zum ersten Mal im Leben Blumen gekauft; zwei Wochen dufteten Hyazinthen, bevor sie leider schon wieder verblühten. Blühen tut auch der lokale Rhabarber, den ich gerne zu Kuchen verarbeite.
Auch mein Büro ist von Blüten und Grün umgeben und ich gehe mittags gerne joggen und spazieren. Und wenn ich abends am Tragflächenboot abgesetzt werde, ich die ganze Stadt ist an der Promenade, grillt und spielt Fußball auf der großen Gemeindewiese, das Meer ist plötzlich wieder voll mit Segelbooten und den weißen Streifen hinter Motorbooten und das Wasser sagt zur Sonne glitzer glitzer. Man wacht morgens ohne Probleme früh auf und ist voller Tatendrang und Plänen für einen Sommer zwei Minuten Fußweg vom Strand. Dementsprechend bin ich an einem sonnigen blühenden Abend im Rahmen der Daueraktion „Echter Kerl“ anbaden gegangen...circa zehn Sekunden lang. Ganz so warm ist es dann doch noch nicht.
Kurz gesagt, mir ging es hier noch nie so gut. In der ganzen Euphorie erinnere ich mich häufig an ähnlichen Tatendrang im April vor einem Jahr in Rostock, die Anemonen bei Papendorf, den blühenden botanischen Garten, den Flieder auf dem Feldweg durch Sildemow, das Fish Filmfestival im Stadthafen. Auch sozial bekomme ich etwas Boden unter die Füße, und dazu kam Mitte April eine große Neuigkeit: Kalina hat Arbeit ganz in der Nähe von Southampton gefunden und ist Ende des Monats dorthin gezogen, eine halbe Stunde von meiner Arbeit entfernt.

Auch kulturell gibt es ganz furchtbar viel zu tun. Nach langem Warten habe ich endlich den Hanekes Film Liebe sehen können, der mich sehr hat nachdenken lassen. Auch habe ich endlich eine der Opernübertragungen im Kino gesehen, Nabucco aus dem Königlichen Opernhaus London. In einem meiner Tanzkurs haben wir eine Choreographie auf Video aufgezeichnet und ist mit einem Klick auf diese Adresse zu sehen:

Voran geht es aber vor allem im Tango. Ich bin jetzt zu gratis Extrastunden eingeladen, und die zusätzliche Übung zwischen den Lektionen hat einen echten Unterschied gemacht. Ich habe ein Grundrepertoir verschiedener Figuren, und wenn die funktionieren und die Partnerin macht was ich führe, schaffen wir genau den Zauber, den ich mir erhofft habe.
Trotz des Wetters bin ich weiter gerne in der Bibliothek und habe dort nach fast einem halben Jahr das Buch über Europa nach dem römischen Reich bis zum Jahr 1000 ausgelesen, fast sechshundert Seiten lang und so gut geschrieben, dass ich gleich noch einmal mit den ersten Kapiteln begonnen habe. Die Bibliothek wird im Sommer leider wieder ihre Öffnungszeiten kürzen. Ab Juni gehen die langen Semesterferien wieder los und ich freue mich bereits jetzt, wie im letzten Jahr das Haus für mich und damit sauber zu haben.

Je länger die Aufbruchsstimmung dauert, desto mehr verzweifle ich aber, dass wohl der ganze Sommer nicht für alle Ideen reichen wird, die mir konstant erscheinen. Als nächstes fahre ich nach Salisbury und Stonehenge, sogar mit Freunden, aber wann sollen diverse Gärten, der Neuwald bei Southampton, der Pilgerweg von Winchester (geplant seit Juli), die Woche in Frankreich, der Ausflug mit Friedemann nach Finnland, die Einladung Beatas nach Rodos und dann möglichst noch zwei Wochen in Deutschland geschehen? Was ist mit dem Walzerkurs, dem Gesangsunterricht, Russisch- und Mathelernen, mit allen Lehr- und Prosabüchern, wo ich ohnehin schon mehr für Tango und den Chor tun sollte? Sowohl im Kinoverein als auch im Geschichtsdorf sowie dem Garten sollte ich mich blicken lassen. Ab Juni gehen wieder die sonntäglichen gratis Konzerte am Meer los, und dreimal werden gratis Opern auf Großleinwänden übertragen. Was ist mit den Theatern in Titchfield und Chichester? Einen Grill will ich mir kaufen und ganze Tage am Meer verbringen, schwimmen, essen, trinken, tanzen.

Die Euphorie und ihre Dilemmata sind gut am letzten Aprilwochenende festgemacht. Freitagabend habe ich mich beim Tango verausgabt, als beim freien Tanz zum ersten Mal alles so klappte wie es sollte. Samstag habe ich volle acht Stunden in der Bibliothek gesessen und trotzdem nur die Hälfte davon gelesen, was ich eigentlich wollte. Sonntag war dann richtig erfüllt, als ich Kalina in Southampton besucht habe. Auf dem Weg habe ich erst eine Freundin vom Tango besucht, die im hübschen Dorf Hamble lebt, das ich im Herbst auf dem Weg zur Abtei Netley durchquert habe – man erinnere sich an das Foto der kleinen rosa Fähre. Hamble liegt auch an der Mündung des Flusses, an dem Southamptons Hafen liegt und auf einem schönen Spaziergang zog an uns ein großer Containerfrachter mit der Aufschrift Hamburg Süd vorbei. Ich hatte zum Mittag frische Forelle mitgebracht und getanzt wurde natürlich auch. Abends habe ich dann in Southampton Kalina und ihre Mutter getroffen, die sie die ersten drei Wochen begleitet. Sie richten gerade Kalinas nagelneue Einzimmerwohnung bei Ikea ein. So unangenehm es ihr ist kann ich natürlich kaum verbergen, wie sehr ich mich freue, eine richtige, echte, persönliche Freundin ganz in der Nähe zu haben. So nah haben wir seit 2008 in Magdeburg nicht mehr gewohnt.

Als die Hyazinthen noch lebten.


Mein Martinica am Kirchbaum vor dem Büro.

Ich warten morgens auf die Ankunft meines Fahrers mit dem Luftkissenboot.

Abends an gleicher Stelle.

Kalina und ihre Mutter bei unserem ersten Treffen in Southampton.

Mittwoch, 3. April 2013

Ein Monat Menschen

Eine Woche nach meiner Rückkehr aus Polen stand als erstes das zweite Konzert mit dem Universitätschor an. Das fand in einer der größten Kirchen Portsmouths statt und bereits die Generalprobe am Nachmittag zeigte, dass allein die Akustik unseren Gesang auf eine höhere Ebene hob. Hatte ich Zweifel an unserer Bereitschaft gehabt, so klang die durchaus anspruchsvolle modernere Musik allgemein besser im Übungssaal. Zum ersten Mal habe ich Lust auf kleineren Chor bekommen, in dem ich die Stimmgewalt der Masse gegen eigenen Einsatz tauschen könnte. Da passt es, dass der Chor noch mehr Leute verloren hat, jetzt sind wir bei vielleicht einem Drittel der Zahl vom Anfang.
Wie hoffentlich auf dem Foto zu sehen sang ich mit einem breiten Lächeln. Ich habe das moderne Gloria von Francis Poulenc wie von unserer Leitung versprochen richtig lieb gewonnen; die klassischen Stücke wirkten neben den Experimenten am Ende fast simplistisch. Aus dem gleichen Grund jedoch war ich überrascht, dass wir fast alle Plätze füllten. Eine Freundin vom Tango war auch dabei, sie lud ich im Anschluss ins Café und schloss mich danach dem Chor im Pub an. Mit einer kleinen Gruppe um die Leitung war ich zum ersten Mal mit Engländern vernünftig trinken, also lang und gut, aber nicht das Gesaufe, dass mich so anwidert, sondern am Ende Portwein beim Manager zu Hause. Tags darauf saß ich selbst im Publikum bei der ersten interessanten Theatervorstellung seit Juni, der Oper Carmen mit dem Nationalchor von Chisinau (Moldawien). Dabei lernte ich, warum Karten an der Seite billiger sind als in der Mitte: man hört nur die eine Hälfte des Orchesters. Dazwischen eine Hustenepidemie im Publikum, eventuell verursacht durch die scheinbar traditionelle Pauseneiscreme.

Noch einen Tag später kam Papa zu Besuch. An Arbeitstagen musste er tags allein reisen. Aber abends haben wir zusammen gekocht und auch ein tolles Tapas-Restaurant gleich bei mir um die Ecke gefunden, mit echten Spaniern und Riesenpaellas, und das auf der Hauptkneipenstraße, wo sonst nur Fastfood für die Betrunkenen am Wochenende geboten wird.
Mir ist es ja ein Bedürfnis geworden, Freunden und Familie meine Passionen zu zeigen, weshalb Papa mich zweimal zu Chorproben begleitet hat. Wir singen jetzt ein neues Programm voller Ave Marias u.a. von Liszt und das berühmte von Mozart, für ein Konzert am 22. Mai ein. Besonders freut mich eins von Rachmaninoff auf Russisch, aber wir singen auch Schumann auf deutsch, was mir zuerst auch simplistisch schien, aber bald ergab ich mich der Harmonie. Simpel wäre auch ganz gut, weil ich schockiert festgestellt habe, das wir jetzt einen ganzen Monat Osterpause haben, dann nur drei Wochen bis zum Konzert und dann den ganzen langen Sommer bis Oktober gar keinen Chor.

In einer glücklichen Fügung überschnitt sich Papas Anwesenheit auch mit einem der regelmäßigen Musikabende der Musikgesellschaft der Uni. Dort ist freie Bühne für alle Interessierten, vor allem natürlich die Musik- und Schauspielstudenten. Aber diesmal stand auch ich auf dem Programm: unser Pianist hatte mich gebeten, Schuberts einziges Melodram „Abschied von der Erde“ (nach Gedicht von A. von Pratobevera) zu seinem Spiel zu deklamieren. Auch dieser Auftritt weckte in mir eine unkomplizierte, direkte Freude, darüber, etwas selbst zu machen, und vor einem interessierten Publikum zu stehen, und dabei noch andere sehen zu können, die ebenfalls Begeisterung zeigen und dazu noch etwas können; dass sich junge Leute hier doch für mehr als „Fun“ mit Alkohol interessieren.
Am Wochenende wollten wir nach Cornwall fahren, sind dann aber ins erreichbarere historische Bath und das eher postindustrielle Bristol an der Westküste gefahren. Natur gab es auf dem Weg trotzdem genug zu sehen, die schönste Seite Englands, mit weiten grünen Feldern und wenig Menschen. Bath hat seinen Namen von den großen römischen Bädern, deren Becken immer noch von einer heißen Quelle gefüllt werden. Bristol dagegen verdankt seine ungeahnte Popularität dem Nachtleben seines revitalisierten Zentrums. Wir haben praktisch das letzte Hotelzimmer der Stadt bekommen, alle anderen sind wohl jede Woche von Leuten gebucht, die von nah und fern kommen um sich in den Kneipen richtig abzuschießen. Wir dagegen sahen uns in der Ruhe des Sonntagmorgens die Hängebrücke von Clifton an, die hoch über dem tief in den Fels gegrabenen Fluss gespannt ist. Riesenspaß hat mir auch die moderne Kunstgalerie gemacht, wo mir zum Glück nur noch Kasia fehlte. Wobei mir auch schmerzhaft klar wurde, dass Portsmouth dafür einfach zu klein ist und so etwas nie haben wird.

In dem mit Papas Besuch fast ununterbrochene Monat in der Gesellschaft von Menschen bin ich richtig aufgeblüht. Abgesehen vom Chor habe ich alles andere wie Tanzen nicht gemacht und auch nicht vermisst. Den Monat machte ich mit einem langen Osterwochenende mit den drei Bulgarinnen in York voll. Zum lange geplanten Ausflug mit Kalina schlossen sich noch ihre Schwester an, und ich traf außerdem eine Bekannte aus jenen Zeiten wieder, Natalia aus Rumänien, bei der ich auch übernachtete. Die Schwestern mussten leider eine Pension buchen. Dafür hatten wir ausgesprochenes Glück, denn entgegen der Vorhersage kam die in York so wichtige Sonne genau zu unserer Ankunft heraus und blieb das ganze Wochenende.
Es schien kaum Zeit vergangen zu sein, seitdem ich mit Kasia ein wundervolles, sonniges Ostern in York verbracht hatte. Zum Frühstück im Garten reichte es diesmal nicht, aber ich wandelte auf jenen Spuren wo nur möglich. Den Münster zeigte ich natürlich, selbst wohl wieder am meisten berührt von seinem Raum und Licht, und zum Ostergottesdienst vom traditionellen Psalm 150 des Chors. Und apropos Chor: in der Touristeninformation griff ich zum Konzertprogramm der Uni und was sehe ich? Mich! Auf dem Titelbild ist unser Konzert im Münster 2011, und in der obersten Reihe der Bühne stehe ich!
Ich lernte selbst noch dazu, nämlich, dass der in York gekrönte Konstantin der Große derselbe war, der Konstantinopel gründete. Auch Ausflüge nach Knaresborough und Harrogate haben wir wieder geschafft. Nur der geplante Salsaabend gelang nicht. Zwar machten wir auf einem meiner alten Kurse mit, aber als ich danach in einem richtigen Club tanzen wollten, hörte ich vom einen Türsteher erst, ich sei betrunken, und dem nächsten waren meine Schuhe nicht schick genug. Ich war tief beleidigt, wo mich ohnehin soviel in England stört. Mir sowas von diesem Alkoholikervolk anzuhören, wo ich am Samstag vermutlich der einzige in der ganzen Stadt war, der nicht mal ein Glas angefasst hatte. Stockbesoffene Pöbeleien sind kein Problem, aber falsche Schuhe. Mit Natalia und Kalina hatte ich über die Einbürgerungsprüfung hier gesprochen – von uns war ich der einzige, der sie sofort schaffen würde, aber auch der einzige, der nicht hier bleiben will.

Nach einem Monat mit der Gesellschaft, die mir hier immer gefehlt hat, bin ich jetzt erstmal wieder allein. Im Mai kommt, wie ich sehr hoffe, Kasia zu mir, und wie ich noch mehr hoffe, für eine längere Zeit. Parallel dazu hat Kalina wohl Arbeit bei Winchester gefunden und zieht eventuell in die Region. In jedem Fall soll der April erst einmal ruhig bleiben, denn so schön die letzten Wochen waren, so will ich auch erstmal ein wenig sparen.
Auf der Arbeit beginnen wir ein neues Projekt. Diesmal bereiten wir aus den Daten der Volkszählung sog. Herkunft-Ziel Statistiken. Das sind grob gesagt Migrationsstatistiken, wieviele Leute zwischen 2010 und 2011 aus Kreis A nach Kreis B gezogen sind, oder aus dem Ausland gekommen sind, oder als Studenten zwischen Semester- und Heimadresse pendeln, oder täglich zur Arbeit. Ein sehr spannendes Thema, wieder für kleine Spezialistengruppen. Außerdem bereitet meine Gruppe auch Daten für das europäische Statistikamt Eurostat vor, aber damit habe ich noch nichts zu tun. Auf einer praktischeren Ebene wurde ich am Gründonnerstag auf einen Feuerschutzkurs geschickt, wo mir als Bürobrandschützer der Umgang mit Feuerlöschern gezeigt wurde. Der Nachmittag war dem öffentlichen Dienst frei gegebenen, weshalb ich direkt im Anschluss nach Birmingham fahren konnte, und nicht zuletzt deshalb sang ich auf der Straße Poulencs Gloria.

Vor dem Konzert.


Auftritt mit unserem Pianisten beim Musikabend, leider verwaschen.


Meine Gastgeberin Natalia und ihre Blumen.

York: am Fluss.
Ostersonntagmorgen: auf dem Weg zum Gottesdienst.

Nach dem Gottesdienst.
Im Kapitelhaus des Münsters. 
Chorkonzert des Unichors York, 2011 im Münster. Wer findet mich? © 2013 University of York 


Die einzigen Überreste der normannischen Burg sind ein guter Aussichtspunkt.

England im Frühling - Osterglocken überall.

Ein ruhiger Fleck im am Wochenende immer vollen Zentrum.
In Harrogate.

Lokale Architektur in Knaresborough.

Zu vergleichen mit einem Bild mit Kasia von 2011.
Wenigstens einmal sind Kalina und ich doch zum Tanzen gekommen.