Donnerstag, 28. Juli 2011

26.07.2011 – Neues aus den Kolonien

Am 12.7. wurde Emily nach gut zwei Wochen endlich vor die Tür befördert, nachdem unsere Vermieter zum Rasenmähen kamen und sie immer noch der zugemüllten Höhle vorfanden, in das sie ihr Zimmer verwandelt hatte. Ja wir sind alle froh, denn sie hat uns zunehmend genervt. Nichts anderes gemacht als Fernsehen zu schauen, definitiv keine ersichtlichen Auszugsvorbereitungen getroffen und nebenbei auch keine Miete bezahlt. Zum Glück hatte ich schon früh die Vermieter informiert, sodass uns niemand Beihilfe vorwerfen kann. Darum ist mir auch nur ihr Überraschung unklar. Im Vergleich zum Miteinander mit Maria und Timm scheint rückblickend jeder einzelne ihrer Vorgänger komisch gewesen zu sein. Jetzt jedenfalls herrscht deutsche Ruhe und Ordnung im Haus. Und am Folgetag haben wir gefeiert, mit zünftigem deutschen Glühwein und gemeinsamem Kochen und danach sogar Abwaschen, komplett mit Abtrocknen und Wegräumen. Deutsche Mitbewohner - was mir da jahrelang entgangen ist!
Ebenfalls als guter Deutscher leere ich meinen Haushalt in Vorbereitung auf den Auszug früh und mit maximaler Effizienz. Wegschmeißen mag ich möglichst gar nichts, darum habe ich letztens haltbare Kochzutaten und Gewürze meinem ehemaligen Chorleiter Graham übergeben. Dabei habe ich gelernt: Amerikanern gibt man im Gegensatz zu Briten die Hand.

Entdeckungen und Experimente
Mit Papas Besuch in der zweiten Julihälfte war das Haus fest in deutscher Hand, meine vorbildlichen Ernährungsgewohnheiten dagegen kapitulierten nach nur kurzer Gegenwehr. Unter anderem hatte ich nach einem weiteren wehmütigen Austausch mit Maria über deutsche Bäckereien spontan und auch erfolgreich meinen ersten eigenen Zupfkuchen gebacken, mit dem ich dann fast komplett allein gelassen wurde. Jetzt muss ich erstmal wieder abnehmen. Dafür haben wir den Großteil der Yorker Restaurants besucht und ich am Meer mein vermutlich letztes Fish & Chips gegessen. Letzteres war auf einem Ausflug in die kleine Hafenstadt Whitby nördlich von York, einem der beliebtesten Ausflugsziele Englands. Der Ort ist neben seiner Wasserlage bekannt als Landungsort von Dracula (auch dort daher das inzwischen allgegenwärtige lokale Spukhaus und Gespensterführungen), Lehrort von Captain Cook und vor allem für die Ruine des Klosters der Hl. Hilda. Letztere ist eine der Größen der englischen Kirche und sowohl mit Yorker wie Newcastler und Durhamer Heiligen der angelsächsischen Periode eng verbunden. Weiterhin sah ich endlich Schloss Howard, worauf ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, und noch einige neue Ecken von Knaresborough. Zu letzterem führte uns ein kurzer Nachmittagsausflug, nachdem wir den ganzen Tag im Regen zu Hause gesessen hatten. Das Wetter war nämlich typisch englischer Sommer und nahm erst ganz zum Ende des Besuchs europäische Züge der Jahreszeit an. Im Garten habe ich übrigens neben Apfel und Birne jetzt auch noch Mirabellen- und Pflaumenbaum entdeckt.

Das Südfenster des Münster, genannt "Rose von Yorkshire". Gestiftet anlässlich des Endes der Rosenkriege, als sich die Häuser Lancaster und York nach Jahrzehnten von Krieg durch eine Heirat verbanden.
Westfenster des Münster, genannt 'Herz von Yorkshire'.

Das Hauptschiff des Münsters.



Abendessen im Garten.

Unser Haus vom Garten aus gesehen.

Hafen von Whitby. Oben rechts zu sehen die Ruine der Abteikirche Whitby.


Ruine der Abteikirche Whitby. Das Gelände selbst ist heute Museum.



Der Campus im Sommer. Das Herrenhaus des Universitätdorfes Heslington birgt nur Funktionsräume. Der Campus selbst ist im Stil der 1960er Jahre.

In diesem College ist mein Institut untergebracht.

Eine Karte des Campus.

Ein Wegweiser auf dem Campus. Soviel zu den Prioritäten in der Bildung hier.

Die in den Ferien menschenleere Bibliothek.

Blick über den Campus vom 3. Stock der Unibibliothek.
Uni für alle
Wie bei Kasias Besuch war ich auch jetzt an der Uni, wenn auch nicht so viel wie geplant. Leicht ist es auch nicht, denn nach der kurzen Verschnaufpause wird die Bibliothek jetzt weiter umgebaut, bevorzugt mit Bohrmaschinen. Kurz vor dem Besuch hatte ich noch einmal einen kurzen Computerlehrgang, wo ich endlich ein bestimmtes Programm zu bedienen lernte, dass einem die Referenzliste in schriftlichen Arbeiten automatisch und in jedwedem lokal erwünschten Format erstellt. Klingt trivial, hat aber seinen Wert für Studenten, vor allem wenn sie in verschiedenen Ländern lernen und schreiben.
Der ferienleere Campus wird desweiteren durch Gäste aufgefüllt. Die Uni vermietet ihre momentan ungenutzten Räumlichkeiten für diverse Konferenzen und Übernachtungen von deren Besucher. Letztens fand die Hauptsynode der anglikanischen Kirche statt und ich habe eine Schulgruppe aus Sizilien getroffen. Apropos Kirche, letzten Sonntag hatte ich meinen Auftritt beim Teeausschank nach der Gottesdienst im Münster. Für den 14. August bin ich nochmal eingeplant. Sonst wird das ja von den Eltern der Chorknaben vorbereitet, aber die sind ja während der Schulferien meist im Urlaub.

Konvergenz und Divergenz
Wer auf einmal auch verreist, und zwar durch ganz England und Europa, sind die Chinesen, was universitätsgeschichtliches meines Wissens ein waschechtes Novum ist. Ich dagegen bin dieses ganze Jahr kaum weggekommen. Aber die haben auch jeden Tag auf ihrem Stuhl gesessen und gelernt, ihre Prüfungen mit Bravour bestanden und die Abschlussarbeit sehr wahrscheinlich fast fertig. Außerdem wollen sie natürlich ihre verbleibende Visazeit nutzen. Geht eben nichts über eine gesunde Mischung aus Selbstdisziplin und Termindruck.
Gleiches lehrte mich auch zum wiederholten und nie nachhaltig gelernten Mal ein kurzzeitiger Verlust unseres Heiminternets aufgrund von Anbieterwechsel. Da bin ich morgens 6.30 Uhr für die Übersetzungsarbeit an die Uni gefahren um deren Verbindung zu nutzen. Der Tag war dann so unvermutet produktiv, dass ich das am Folgetag gleich nochmal gemacht habe. Immer wieder mache ich die Erfahrung, wie schnell man zu Hause versackt. Je schneller man rauskommt, desto besser.
Meine Einschätzung der eigenen Abschlussarbeit ändert sich täglich. Bis Ende Juli gebe ich mir noch zum Sammeln von Daten und Durchführen der statistischen Berechnungen. Dann will ich aufschreiben, was ich habe. Zuletzt habe ich parellel zu den Datensätzen auf nationaler Ebene einen regionalen erstellt und auch einige wichtige methodische Probleme gelöst. Die regionalen Ergebnisse machen jetzt richtig Sinn, die nationalen noch weniger.

Mittwoch, 6. Juli 2011

06.07. – Schöner wohnen, besser lernen

Es sieht so aus als hätte ich Emilie (etwas) Unrecht getan: nachdem ich die letzten Junitage nicht sicher war, ob sie schon weg ist, fand ich am Abend des 29.6. zumindest einen Umschlag mit dem ausstehenden Geld. Ok, nicht allem, aber zumindest hatte sie halbwegs plausible Gründe für den Ausstand.
Schon am Folgetag kamen die neuen Mitbewohner, Timm und Maria aus Bremen und Köln. Timm ist Samstag allerdings schon wieder weggefahren, einen Monat in die USA. Darum haben wir Freitag noch im Garten einen Kennenlernumtrunk gemacht. Beide studieren Theater und Film, zuerst in einer Firma in München angelernt und beenden jetzt Bachelor bzw. Master an jeweils einer der hiesigen Universitäten. Daher leben sie auch schon seit 3 bzw. 4 Jahren hier.
Das war im übrigen der erste gemeinsam mit Mitbewohnern verbrachte Abend hier. Auch sonst verspricht der neue Haushalt viel unkomplizierter zu werden als bisher. Nicht nur, weil sie viel Haushaltsgerät mitbrachten, sondern einfach viel berechenbarer und unkomplizierter scheinen als ihre Vorgänger. So ist das, habe ich beim ersten Mal in England das Leben in der Fremde schätzen gelernt, entdecke ich jetzt die Wertschätzung für Heimat und Landsleute, die ich damals eigentlich erwartet hatte. In der Tat waren unsere ersten Gesprächsthemen auch all die Dinge, die in Deutschland besser sind als hier. Der Kontrast wird von der englischen Emily unterstrichen: die ist nach einer Woche bei der Familie irgendwie wieder eingezogen – zuerst nur, weil irgendwas mit ihrer neuen Wohnung nicht klappt, aber wielange genau, weiß sie auch nicht. Wir werden sie mittelfristig rausekeln.

Der Toskanaeffekt
Während Emilie ging, kommt ab und zu der Sommer, schwuel und schweißtreibend, und geht dann wieder. Am letzten Junisonntag morgens fing er an, plötzlich war er da. Sofort begann jeder über die Hitze zu klagen. Besonders morgens ist es meistens schön. Ich kann die Übersetzungen im Garten machen, dessen Gras wieder hochgewachsen ist. Auch abends kann man im letzten Licht noch etwas lesen, gemeinsam mit den neuen Mitbewohnern. Im Moment bin ich nämlich abends häufiger zu Hause, da mir die Salsaabende ausgehen.
Auf dem Weg zur Uni springe ich bei Sonne wieder ab und zu noch schnell in den erleuchteten Münster oder kann in den früh noch leeren Museumsgärten am Fluss unter den Ruinen der Marienabtei lesen. Besonders Sonntag ist das toll, wenn vor der Messe bereits die nahen Münsterglocken läuten. Ab jetzt werde ich dort wieder regelmäßig sein, denn ab dem 4.7. ist die Uni am Sonntag zu und ich werde wieder in die Stadtbibliothek fahren, die direkt neben dem Museum liegt.

Auf dem kürzlichen Picknick der Lateinamerikanischen Gesellschaft. Kirche und Anger im Hintergrund gehören zu Heslington, dem ganz von der Universität übernommenen Dorf am äußersten Rande Yorks. Ganz in der Nähe war ich während des Sommerkurses einquartiert.



Der Brandenburgeffekt
Freitag, den 1.7. wurden den Studenten scheinbar ihre Jahresendnoten mitgeteilt. Seit dem Folgetag ist der Campus wie ausgestorben, die Geschäfte zu, die Bibliothek ein Himmelreich des Friedens und der Ruhe. Mein Fahrad steht ganz allein am normalerweise zugeparkten Geländer, an Wochenenden habe ich oft einen ganzen der sonst überfüllten Computersäle allein, zwischen den Bücherregalen herrscht Stille und alle Bücher sind immer verfügbar, eine wundervolle Lernathmosphäre. Leider ist die Bibliothek jetzt nur noch von 09.00-18 Uhr auf. Das reicht nichtmal für die Zeit, die ich durchschnittlich vertrödele.
Nachmittags kann man auf einer sonnigen Wiese Pause machen und bei Müdigkeit einen Spaziergang über den warmen Campus machen, der voll Grün und bunten Blumen ist, dann quaken die Enten und Kaninchen am Ufer des Sees, man fühlt sich fast als hätte man einen kleinen Zoo für sich allein. Wenn man dann auch noch motiviert zur Arbeit zurückkehrt, denkt man sich, dass man vielleicht doch noch hierbleiben möchte.
Eine Ausnahme ist der heutige Tag der offenen Tür, zu dem 20.000 Studieninteressierte erwarten werden. In der Tat waren bereits morgens Menschenmengen zu sehen. Das war der Arbeit abträglich und auch gratis Essen oder Geschenke waren praktisch unauffindbar.

Der Rehabilitationseffekt
Leider auch sitze ich gerade jetzt nicht über Büchern sondern zu viel vor dem Computer. Das aber zumindest deshalb, weil ich endlich den interessanten Teil meiner Arbeit begonnen habe. Nach der Literaturübersicht und der Theoriewiderholung habe ich jetzt mit der Statistik begonnen, deren Übung ja die Hauptmotivation der ganzen Thematik ist. Ich hab mir zu Anfang einfach mal einige Daten geschnappt und in unser Statistikprogramm geworfen – und Ergebnisse bekommen! Das macht mir wirklich Spaß, und das ist auch eine sinnvolle Erfahrung. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl etwas wirklich Nützliches zu lernen. Auch erinnert es mich daran, dass mir trotz der erbärmlichen Langsamkeit der Bachelorarbeit schon damals die Statistiken gefallen haben. Die Erfahrungen von damals stellen sich jetzt sogar als nützlich heraus. Was eventuall heißt, dass die ganze Geschichte vielleicht doch nicht vollkommen sinnlos war, auch wenn ich damals ohne jede Vorbildung über Statistik geschrieben habe, sie vermutlich ganz furchtbar vergewaltigt habe und mich dafür zunehmend geschämt hatte.