Freitag, 17. April 2020

ottoda

Einen Monat ist Otto alt und ich habe nichts über ihn geschrieben, was zeigt, wieviel wir hier zu tun hatten.

Am 17. März rumorte es den ganzen Tag in Ellies Bauch, da hörten wir die Nachtigall schon trapsen. Ich hatte mich gerade schlafen gelegt und hoffte, wir würden aufwachen und wären bereit zum Krankenhaus zu fahren, da verkündete Ellie, dass die Wehen nun wirklich eingesetzt hätten. Also bin ich gleich wieder aufgestanden. Die Nacht habe ich teilweise auf dem Sofa verbracht, während Ellie im Bad ausharrte. Ich fühlte mich bereits da etwas schlecht weil ich ihr nicht helfen sondern nur warten konnte. Um fünf Uhr morgens, wie sie die Stunden allein im Bad ausgehalten hat, weiß ich nicht, sagte sie, dass die Schmerzen jetzt groß seien und wir fuhren zum Krankenhaus. Da war anziehen und ins Auto steigen bereits schwierig. Umso großer der Schock, als die Nachtschicht Ellie nach einer schmerzhaften Untersuchung sagte, dass es noch viel zu früh wäre. Ellie verzweifelte, dass sie sich jetzt ein weiteres Mal unter Schmerzen anziehen und nach Hause fahren sollte, nur um später zurückzukommen, wo es bereits jetzt so schlimm war. Ich konnte ihr nur gut zureden und fühlte mich verdammt hilflos.
Praktisch als wir dann tatsächlich nach Hause gekommen waren, platzte die Fruchtblase und starke Wehen setzten ein. Wir waren völlig verwirrt; keine halbe Stunde vorher war uns noch gesagt worden es wäre noch sehr früh. Ellie schrie schon vor Schmerzen während ich verzweifelt die Entbindungsstation um Ratschläge bat. Wie sie die nächsten Stunden ausgehalten hat werde ich nie verstehen. Hilflos ist das einzige Wort, das meine Gefühle beschreibt. Ich konnte ihr nur ab und zu leichtes Essen bringen und versuchen, der rationale zu sein und den Ratschlägen aus dem Babykurs zu folgen. Heute wissen wir, dass unsere Entbindung überhaupt nicht dem normalen Muster folgte. Wehen hatten nichts mit dem beschriebenen Rhythmus zu tun, somit hatte ich keinen Anhaltspunkt, wann wir wieder ins Krankenhaus fahren sollten und ich musste davon ausgehen, dass Ellie nicht mehr klar genug für solche Entscheidungen war. Wir hatten beide nur Angst, dass sie uns wieder nach Hause schicken würden. Ich wollte mich am liebsten in einer Ecke zusammenrollen; stattdessen konnte ich nur gegen die Badheizung lehnen und gute Miene machen, während Ellie in der Wanne saß und durch die Wehen atmete.
Um elf sagte sie, dass sie die Schmerzen nicht mehr aushielt und wir fuhren zurück ins Krankenhaus. Keine Ahnung, wie sie es aus der Wanne, in die Klamotten und ins Auto geschafft hatten. Als wir ankamen, konnte sie jedenfalls nicht mehr laufen und ich rannte los einen Rollstuhl holen. Gottseidank kam eine Frau vom Empfang mit und vermittelte Zuversicht wie ich es nicht mehr konnte. Ellie schrie den ganzen Weg auf die Station. Zum Glück wurden wir da schon erwartet und der beste Raum reserviert. Die Hebammen kamen auch gleich, schienen sich aber erst um Papierkram zu kümmern, während Ellie auf dem Bett lag und nach Schmerzmittel schrie. Das war wirklich der schlimmste Moment; ich stand neben dem Bett und heulte, weil ich ihr nicht helfen konnte.
Sobald die Hebammen sich um sie kümmerten, wurde alles gut. Ellie bekam Gas und fühlte sich schlagartig besser. Da fiel mir selbst so ein Stein vom Herzen, dass mir der Rest der Entbindung plötzlich leicht fiel. Die schien im Vergleich zu den Wehen in Windeseile zu vergehen: dreiviertel zwölf ging es los und halb ein war Otto da. Dazwischen hielt ich Ellies Bein so lange in der Luft und stemmte mich gegen ihr Pressen, dass mir der Arm noch drei Tage später weh tat. Ellie war immer noch laut, aber instinktiv war mir klar, dass das keine Schmerzen mehr waren. Und wir alle logen ihr vierzig Minuten lang ins Gesicht, dass Otto praktisch raus wäre und eine Anstrengung mehr ausreichen würde.
Ich staunte, wie schnell das Ende war. Sobald der Kopf draußen war, kam der Rest in einer einzigen Kontraktion. Und es war natürlich merkwürdig, wie da plötzlich ein neuer Mensch lag. Aber ich gewöhnte mich überraschend schnell daran, dass er auf mir liegt. Ah, und dann: brachte uns die Leitende Hebamme Tee und Toast - Nahrung der Götter nach dieser Nacht.

Ellie blieb eine Nacht im Krankenhaus, während ich nach 21 Uhr nach Hause musste. Ehrlich gesagt habe ich meine letzte Nacht allein und in Ruhe genossen. Am nächsten Tag fuhr ich morgens zurück zu Ellie und wir wurden am späten Nachmittag entlassen. Eltern und Großeltern wundern sich seitdem, dass Ellie nicht viel länger dort blieb. Anfangs war ich heilfroh, schnell nach Hause zu dürfen, aber inzwischen denke ich wäre mehr Zeit mit den Hebammen wirklich gut gewesen, weil wir in den folgenden Wochen soviele Fragen hatten und während der Ausgangssperre niemanden persönlich sehen können. Bruststillen zum Beispiel wurde uns zwar direkt nach der Geburt gezeigt, aber im Nachhinein ist doch sovieles unklar, was man nur persönlich klären kann. Zum Beispiel hätten wir so viel eher erfahren, dass sein Zungenbändchen zu kurz ist und Stillen daher kaum möglich ist. Stattdessen hat sich Ellie erst lange als schlechte Mutter gefühlt. Hausärzten und diverse lokalen Elterngruppen sind momentan alle maximal über Video verfügbar und häufig reicht das nicht.
Allgemein muss ich aber eins sagen: die Geburt verlief viel besser als befürchtet und das Personal war fantastisch. Was werden den Frauen für Sorgen gemacht (und was hat sich Ellie für Sorgen gemacht) - kommen sie auf die gefürchtete Station B8? Kriegen sie das richtige Zimmer? Wird ihnen Induktion und Kaiserschnitt aufgezwungen? Geht es den vermaledeiten Medizinern nicht nur darum nicht verklagt zu werden?! Und was passiert: Covid-19 führte zur Schließung aller Stationen außer B8 und: war trotzdem super. Ich baute elektrische Kerzen auf und spielte die ausgewählte Musik. Aber als wir ankamen und alles ganz schnell ging, flogen alle anderen Pläne aus dem Fenster: die Stellung, die Hypnose-Techniken. Wir hatten zwar das gefürchtete Gespräch über mehr oder weniger medizinischer Beobachtung, aber die Wahrheit ist: es wird alles gut. Von ganz allein. Wer hätte das gedacht.

Ottofotos



    Aus der Zeit nach der Geburt
    • unsere Wehen hatten wirklich gar nichts mit den Mustern zu, auf die wir im Babykurs vorbereitet worden waren. Hätte Ellie darauf gewartet anstatt ihrem Instinkt zu vertrauen, hätten wir zu Hause entbunden.
    • auch alle Vorsätze wie "keine Flasche" und "kein Nuckel" überleben keine einzige stressige Nacht
    • Ellie und ich haben überraschenderweise sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die Kindererziehung. Trotz aller Gespräche über die Jahre hat mich Ellies Einstellung überrascht, dass Babys nicht schreien sollten - man soll ihre Bedürfnisse im Voraus erkennen. Ich sage: Kinder schreien. Ich mache mir nie Vorwürfe, wenn etwas nicht klappt. Besonders nicht, wenn sich Otto einpullert. Hätte ich gar nicht von mir gedacht.
    • allgemein halte ich Schwangerschaft und Geburt für eine grandiose Fehlplanung der Natur. Nichts passt zusammen, Sachen stehen sich unnötig im Weg... und warum ist die Brustmilch nicht da wenn das Kind sie braucht?! Millionen Jahre Evolution und das ist das Ergebnis?
    • der Vaterinstinkt kam wirklich ganz von allein. Da war ich mir nie so ganz sicher gewesen. Aber mit Otto kann ich rumalbern, wie ich es mit anderen Babys nie konnte. Und das Schreien geht mir viel weniger auf die Nerven, auch wenn man natürlich keine große Wahl hat.
    • eins muss ich sagen: seit dem Moment in dem Ellie die Wehen verkündete, denke ich sehr intensiv an zu Hause und wielange ich schon weg bin.
    • bisher schaffe ich es, mit Otto deutsch zu sprechen, besonders, wenn ich ihn alleine habe. Ganz besonders freut mich, dass ich ihm viele deutsche Kinderlieder vorsinge. Besonders abends nehme ich ihn dazu häufig in den Garten, wenn er besonders schwierig ist. Von Oma hatte ich mir ein Buch mit Noten mitgenommen, aus dem ich tatsächlich einmal vorgespielt habe. Je mehr ich Otto vorsinge, desto mehr andere Lieder kommen mir wieder in den Sinn, deren Texte ich dann wieder recherchiere. Das beruhigt ihn tatsächlich oft, aber davon abgesehen macht es mir selber viel Spaß.
    • zu Ostern habe ich ihm außerdem den Osterspaziergang vorgelesen. Kann man nie zu früh machen.
    • wir hatten von Anfang an Probleme mit dem Bruststillen und Ellie hat sich ganz furchtbare Vorwürfe gemacht. Erst als wir nach einem Monat eine private Hebamme bestellten, stellte sich raus, dass sein Zungenbändchen einfach zu kurz ist und es niemals hätte klappen können. Zum einen macht es mich wütend, was für Schuldgefühle den Frauen nolens volens eingeredet werden. Zum anderen werden wir das jetzt gleich schneiden lassen und damit hoffentlich gleich eine Reihe verbundener Probleme lösen.
    • ich komme neben Babybetreuung maximal zu minimaler Haushaltsbetreuung, aber einmal habe ich abends die Internationale Raumstation direkt über unseren Garten fliegen sehen
    • Wir haben bereits Anträge für deutschen und britischen Reisepass ausgefüllt und werden sie sofort nach der Ausgangssperre abschicken, damit wir baldmöglichst nach Deutschland fliegen können.
    • den Katzen war das ganze ursprünglich nicht geheuer, aber inzwischen trauen sie sich wieder ganz nah ran

    Anmerkungen zur Quarantäne, in der das alles stattgefunden hat.
    • in vielerlei Hinsicht war das eigentlich praktisch. Ich habe zwar schon drei Wochen Elternurlaub (wie sind die Leute früher ohne klargekommen?!) aber jetzt arbeiten wir alle zu Hause wahrscheinlich für Monate. So kann ich Ellie unterstützen, spare mir Kraft und Geld zum Pendeln und sehe mein Kind mehr. Mein Arbeitgeber hat uns sogar Ausrüstung wie Monitore und Tastaturen nach Hause geschickt, was langfristig viel besser ist. Ungewöhnlich schnell und flexibel für unsere Verhältnisse.
    • in deutschen Medien lese ich viel vom Homeoffice. Ich vermute, dass ist ein amerikanischer Ausdruck. Hier drüben heißt home office nur eine Sache: Innenministerium. Von zu Hause arbeiten heißt einfach working from home.
    • unpraktisch waren die Panikkäufe am Anfang. Zu essen gab es immer genug, aber spezielle Sachen für junge Eltern, z.B. Milchpulver, waren zeitweise problematisch. Inzwischen scheint man sich an die Umstände gewöhnt zu haben und Engpässe sind selten. Es gibt aber immer genug Besserwisser die zu gut zum Abstandhalten sind.
    • Ich gebe zu, Covid macht mich nervös und anfangs habe ich die Nachrichten gar nicht mehr gelesen. Es wäre vermutlich gar kein Problem gewesen, hätten wir nicht gerade ein Kind erwartet. Aber ich hatte Angst, mich kurz vor Geburt mit Symptomen isolieren zu müssen und nicht bei der Entbindung dabei sein zu können. Wie wir gesehen haben, wäre das gar nicht gegangen. Seither gehen wir praktisch nicht mehr raus, besonders Ellie. Ich erledige Einkäufe, zugegebenermaßen nervös. Dafür haben vermutlich noch nie so gesund gegessen. Obst, Gemüse und Brot beziehen wir inzwischen aus lokalen Läden, wo ich vorbestellen und dann einfach abholen kann, wodurch der Kontakt minimiert wird. Das werden wir sicherlich beibehalten.
    • Die Ausgangssperre hat aus mir einen Jogger gemacht! Jeden Abend laufe ich zum Meer und zwar besonders gern auf den Kieseln den Strand entlang, so sehr fehlt mir offensichtlich das tägliche Radfahren. Am 16. April war ich sogar anbaden (etwa 5 Sekunden lang). Denn das Wetter ist allgemein so schön, dass man weinen möchte, was uns hier verloren geht.
    • Ellie und Otto kommen leider weniger vor die Tür. Wir haben zwar einen Kinderwagen,  aber Ellie befindet den Moment selten als richtig und außerdem haben wir eigentlich nur zwei mittelmäßig interessante Parks zum Spazieren in der Nähe. Die Strandpromenade ist viel zu überlaufen.
    • ironischerweise spreche ich seit der Ausgangssperre viel mehr mit Friedemann. Er arbeitet ja auch zu Hause und wir fingen an, jeweils beim Mittagkochen zu telefonieren. Seit ich wieder arbeite, schalten wir morgens eine Videoverbindung ein, die wir den ganzen Tag laufen lassen. So ist es ein bisschen wie im Büro und man kann ein bisschen quatschen, wenn einem danach ist. Mir tut das unter den gegebenen Umständen richtig gut, wo man viel weniger Leute sieht. Aber auch, diese Verbindung in die deutsche Kultur zu haben.