Freitag, 24. Juni 2011

24.06.2011 - Miserere Nobis

Nach dem letzten absichtlich positiv gehaltenen Wohlfühleintrag trudeln jetzt die ersten Zensuren ein. Die erste Prüfung in Entwicklungökonomie ist zwar im Mittelfeld gelandet, aber weit unter den Hoffnungen – und das war die Prüfung, die zu einfach schien. Ähnliches gilt für den letzten Essay, in Philosophie – Essays sind im allgemeinen einfacher als Klausuren. Was also soll ich von den wirklich wichtigen Prüfungen erwarten? Langsam nervt mich der Eindruck der Zufälligkeit hier; in den Worten einer deutschen Doktorantin „guckt man mal, wo der Pfeil am Ende landet“. Andererseits kann ich jetzt nur hoffen, dass mich die Erwartungen der übrigen Ergebnissen massiv täuschen.

Ich erwähnte, dass sich Klausuren seit den ersten Semester in Magdeburg nicht mehr so schlecht angefühlt haben. Ähnlich ist es mit an manchen Tagen mit der Stimmung: Angst füllt mich im Moment, Angst vor den Ergebnissen, Angst vor der Abschlussarbeit, Angst vor der Arbeitssuche, allgemeine Versagensangst. Das das mal mein Problem an der Uni wird...Angst auch, was mir dieser Abschluss später bringen soll. Dabei ist es ironisch: vor kurzem viel mir ein: ich hatte diese Studien damals doch nicht ganz ziellos gewählt. Wie man jetzt so gerne sagt wollte ich Fähigkeiten erwerben und nicht nur Wissen. Ironischerweise stehe ich jetzt offenbar mit sehr wenig von beidem da.

Qui tollis
Freitag morgen ist die englische Emily ausgezogen. Zwar unter Zurücklassung eines verwüsteten Wohnzimmers und tagelang nicht abgewaschenen Geschirrs (aber praktischerweise auch solchen Dingen wie dem Rührgerät), weil sie trotz einer Woche Vorbereitung am Ende fast ihren Zug verpasst hätte. Aber trotzdem war sie mit Abstand konstruktivste Mitbewohnerin. Immer hilfsbereit und hat ihre Rechnungen sogar im Voraus bezahlt. Ihre französische Namensschwester kann dagegen Ende Juni gern verschwinden, die lässt jetzt durchblicken, dass sie ihre Rechnungen vermutlich nicht bezahlen kann. Das trifft vor allem Ella, die fürs Internet bezahlt. Selber schuld, ohne mich hätte sie das vermutlich niemals verlangt. Das Problem ist, ohne ihr Geld kriege ich vermutlich meins nicht von ihr zurück. Überlebe ich zwar. Aber ich habe bei Wohngemeinschaften immer gesagt man arrangiert sich mit jedem; und auch wenn ich Mitbewohnern immer als Mittel zum Zweck betrachte, habe ich mich nie auf jemandes Auszug gefreut – Emilie hats geschafft. Ist ja nicht so, dass sie es mit übertriebener Freundlichkeit kompensiert hätte.

Götterfunken in excelsis
Der Höhepunkt der letzten Zeit und eine enorme Moralstütze war das Chorkonzert im Münster am 22.6.. Zusammen mit zwei Proben konnten ich insgesamt dreimal im Münster singen. Anders als beim letzten Mal war das Orchester auch von der Uni und wahrscheinlich noch schlechter als wir. Aber wie es im Steppenwolf steht, keine Barbarei kann die Schönheit der Musik zerstören. Egal wie schön es ist Mozarts Messe und Beethovens Neunte zu hören, es selbst in einer Kathedrale mit einem Orchester aufzuführen ist unvergleichlich ergreifender. Beim lateinischen Glaubendsbekenntnis, Melodien der französischen Revolutionsheere dem Nachhal der letzten Zeilen über Brüderlichkeit wird man richtig sentimental.
Leider leider geht damit wie sovieles und soviele auch der Chor in die Ferien. Langsam bleibt mir wenig an Hobbies. Auch der Computerkurs ist bereits wieder vorbei, Freitag reichte ich meine ersten selbstgemachten Internetseiten ein (zu finden auf http://www-users.york.ac.uk/~jh1048/). Letztens habe ich daher an einigen kleinen Experimenten anderer Masterstudenten teilgenommen (die inspiriertere Themen haben als ich), wo ich zweimal Computer spielen durfte. Durch die morgendliche Arbeit bin ich abends oft zu müde um noch tanzen zu gehen, und der Bewegungsmangel macht sich wieder bemerkbar, insbesondere durch allgemeine Mattigkeit und noch erhöhte Faulheit, was dann das Problem nur noch verstärkt. Auch die Bibliothek ist inzwischen zunehmend verlassen und bald auch wieder nur noch zu den verkürzten Ferienzeiten geöffnet. Zeit hier fertig zu werden.

Während der Generalprobe im Münster.

Ich bin in der obersten Reihe bei den ersten Bässen.
Rechts außen mein Freund Richard aus Schwaben, links neben mir der Leiter der Bässe, der extrem begabte Amerikaner Graham.

Die Generalprobe von den Gästeplätzen aus gesehen. Hinter uns die große, bemalte Orgel.


Während des Konzerts. Unten unser beleibter und jähzorniger Dirigent.

  

Richard, Haruka und ich beim Weinausschank nach dem Konzert im Kapitelhaus des Münsters.

Frührentner
Ich kann nicht verleugnen, dass ich mich mental bereits auf die Abreise vorbereite. Welche Rechnungen wann umzumelden sind, wo ich Bücher loswerden kann. Vor Kurzem habe ich einen Käfuer für mein Fahrrad gefunden. Ein Universitätsangestellter, der nächste Woche in Rente geht. Ehrlich gesagt beneide ich ihn.

Benedictus
Am Sonntag dem 18.6. begleitete mich meine japanische Kommilitonin Haruka (vgl. Ausflug nach Durham) in die Messe und danach war ich seit langem mal wieder im Cafe. Eins liegt sehr schön hinter dem Münster, mit Blick in den Garten an der Stadtmauer. Nachdem ich in letzter Zeit der Besäufniskultur hier überdrüssig geworden war, bot ziviliserte Konversation mit einer japanischen Beamtin mit ausgesprochen guten Kenntnissen Deutschlands in ruhigem Ambiente unter expliziter Vermeidung von Uni und Arbeit eine erfrischende Abwechslung. Und was man alles lernt dabei, wusste jemand, dass Japan damals nicht nur deutsche Verwaltung und Bildung übernahm, sondern auch deutsche Kekse? Auch in der Messe hatten wir gewaltig mitgemischt, denn Haruka ist nicht nur eine der wenigen in York verbleibenden Bekannten des Sommerkurses, sondern auch bei den Sopranen und Alts im Chor. Praktischerweise war die Messe unter erstmaliger Leitung des beeindruckenden Erzbischofs war durch die Ordination neuer Priester auch besonders lang und liedreich.

Sanctus Spiritus
Ich habe die Kurzeinführung über Thomas Aquinas beendet und anschließend in Windeseile die zum Römischen Reich gelesen – wenn man mit Geschichte nur Geld verdienen könnte...Jetzt will ich zwei angefangene mathematische Texte beenden und das werden dann vermutlich die letzten Bücher sein, die ich an dieser Uni privat lese. Eins liegt seit letztem September auf dem Schreibtisch, als ich morgens und abends noch den Schwung zum Lesen hatte. Bei einem bin ich mir inzwischen sicher, die schlechten Ergebnisse liegen daran, dass ich faul und leicht abzulenken bin. Die Abschlussarbeit läuft schon wie erwartet, jeden Tag kommt einem irgendwas dazwischen. Und wenn ich ehrlich bin hilft die morgendliche Arbeit nicht dabei an die Uni zu kommen, es verschiebt sich einfach um die zwei Stunden. Nun, zumindest stehe ich um sechs auf.

Gratias Deo
Ich glaube die Backphase ist erstmal vorbei. Letztens habe ich die meisten an Freunde und die kulinarisch Armen in diesem Land verteilt, ich hatte einfach zu viele, und der Figur haben sie auch nicht geholfen. Allerdings hält mich das Wetter weiter in ausgesprochen sentimentaler Weihnachtsstimmung. Wenn Emilie raus ist werden zur Feier die übriggebliebenen Zutaten verbacken.

Mittwoch, 15. Juni 2011

10.06.2011 - Was fürs Herze tun

Fürs Gewissen
Am 8.6. bin ich zu einer Jobbörse an der Uni Leeds gefahren. Bis zuletzt haderte ich, ob es das Geld wert ist, aber am Ende war die Börse doch nicht ganz so sinnlos wie erwartet, vor allem habe ich neben den üblichen Hochglanzbroschüren und Kugelschreibern massiv gratis Schokolade eingesackt. Einige Erkenntnisse über das englische Bildungssystem. Hier geht man nach der Uni nochmal einige Jahre in die Lehre bei der Firma seiner Wahl. Erst da wird man dann richtig für seine Arbeit ausgebildet, Buchhaltung oder Recht, faktisch im Dualen System, egal ob man vorher Geographie oder Philosophie studiert hat. Kein Wunder also, dass den Personalleuten hier die Studienrichtung nicht so wichtig ist. Kostet natürlich gut so eine Ausbildung. Die Bewerbungsfristen erklären auch, warum man auf solchen Messen vor allem Leute sieht, die noch zwei, drei Jahre bis zum Uniabschluss haben, und vielleicht auch, weshalb denen soviel Freizeit gelassen wird. Für mich sind solche Kurse natürlich zu spät, aber ich habe ohnehin nicht vor, jetzt nochmal drei Jahre zu lernen.

Für den Körper
Allgemein hat es mir sehr gut getan, einen Tag unterwegs zu sein, die Beine zu gebrauchen und vor allem mit Leuten zu sprechen. Kaum zu glauben, ich konnte sogar wieder ganze Sätze bilden und nach einiger Zeit Leuten kurz meine Situation schildern und ihnen die Informationen entlocken, die ich wollte. Kann ich auch gut gebrauchen wenn mich meine Arbeit wirklich in die Richtung lenkt, wo ich viel mit Menschen zu tun habe. Es scheint meine Ausbildung ist doch nicht ganz hoffnungslos, zumindest sagen einem das die Personalfuzzies, aber das ist vermutlich ihr Job.
Nach der Messe habe ich noch etwas die Unibibliothek genutzt. Der Campus Leeds ist im übrigen noch miefiger als unsere 60er Jahre Bauten, vermutlich zur gleichen Zeit entstanden. Nachmittags bin ich noch kurz mit einer neuen polnischen Bekannte aus der Nähe von Lodz auf einen Kaffee. Leeds war doch langweiliger als ich es in Erinnerung hatte, das ganze Zentrum besteht praktisch nur aus Einkaufszentren. Aber da Agnieszka sich im Gegensatz zur gewöhnlichen Polonia für mehr als Sonderangebote interessiert, konnte sie mir die lohnenderen Orte zeigen und einiges über die Stadt erzählen. An einigen renovierten Fabriken wie der Kunstgallerie fühlt man sich fast ein wenig an Lodz erinnert.

Für den Geiste
Am 10.6. habe ich in der Nachmittagspause seit langem wieder ein Yorker Museum besucht. Dabei handelte es sich um das im Stadttor Micklegate (wobei „gate“ offenbar vom Altnordischen gata stammt, ein Erbe der hunderjährigen Wikingerherrschaft in York), das letzte vor Ort, was ich wirklich sehen wollte. Eine Etage behandelte die Funktionen und Bewohner des Tors, die zweite die Schlacht bei Towton, die mir selbst kein Begriff war. Dort wurden die 30 Jahre dauernden Rosenkriege entschieden, der erste von zwei waschechten englischen Bürgerkriegen. Es handelt sich dabei also um eine weitere wichtige Schlacht in der unmittelbaren Umgebung von York. Andere sind Stamford Bridge (wo der letzte angelsächsische König die Wikinger schlug, nur um drei Tage später bei Hastings gegen die Normannen zu fallen) und Marston Moor (ein entscheidender Sieg Cromwells im zweiten englischen Bürgerkrieg). Schloss Howard ist bis auf weiteres verschoben; das Wetter wird nicht besser und ich habe in Leeds und dem Museum genug Zeit investiert.

Dienstag, 7. Juni 2011

02.06.2011 - Der letzte Streich

Jetzt sind die Prüfungen vorbei. Zur Makroökonomie am 02.06.2011 ist leider nichts anderes als zu den vorherigen zu sagen und langsam weiß ich auch nicht mehr, was ich überhaupt noch sagen soll. Ob ich zuviel lerne oder zu wenig, mich zu sehr oder zu wenig auf Details konzentriere, mehr in der Bibliothek bin als andere aber die ganze Zeit träume, ob ich die Aufgaben ernster nehmer als erwartet wird, mir Intelligenz fehlt oder Fleiß oder beides oder am Ende nicht doch alles besser ausgeht als es sich anfühlt.
Letztens hatte ich große Freude, mich mit einem chinesischen Elektroniker über ein mathematisches Problem zu unterhalten. Daneben stimmte er zu, dass englische Studenten nicht sehr ernsthaft arbeiten und das Unileben hier allgemein zu sehr auf Spaß fokussiert ist. Aber ich fürchte im Gegensatz zu ihm und den anderen Chinesen, die 90% sämtlicher sinnvollen Kurse ausmachen (mit zunehmender Tendenz auf höheren Niveaus) kann ich es mir fürs erste nicht mehr leisten, diese Meinung zu laut zu vertreten.

Ende ist die allgemeine Stimmung derzeit. Die Vorlesungen sind vorbei, die Prüfungen auch, Freund und Feind verlässt York, mir bleibt eine diffuse Dissertation, Sorge um die Arbeit danach und ein melancholisches Gefühl ähnlich dem am Ende des Sejm Praktikums hier am Ende das Licht auszumachen. Die Gesundheitsökonomen insbesondere gehen auf Praktika, z.T. bis nach Australien. Die schreiben dann erst im September ihre Arbeiten. Noch läuft die Prüfungsphase, aber ich vermute, die Bibliothek wird sehr bald wieder sehr leer sein. Und gerade jetzt kann man endlich wunderbar arbeiten. Der Baulärm ist vorbei, der erste Stock nach der Renovierung wird wieder freigegeben und zum ersten Mal überhaupt sehe ich das Gebäude ohne Gerüste. Nun ja, nach der letzten Klausur wird einem bewusst, dass das Jahr fast vorbei ist, man die Abschlussarbeit ja wohl sehr allein schreiben wird, nirgends mehr regelmäßig erscheinen muss, keine kurzfristigen Aufgaben zu erledigen hat und dann die Studienzeit als solche zum Ende kommt.

Noch aber habe ich die Universitätseinrichtungen zur Verfügung und trotz aller Melancholie und des schlechtes Gewissens wegen der Prüfungen fehlt mir nicht die Spaß, sie jetzt erstmal nur nach meinem eigenen Interesse zu nutzen. So habe ich die Kurzeinführung über Augustinus sowie sofort danach die über das angelsächsische England durchgelesen. Habe mich schon lange für diesen am schwierigsten zu dokumentierenden Abschnitt der englischen Geschichte interessiert. Jetzt lese ich über Thomas von Aquin. Daneben aber bemerke ich eine merkwürdige Hinwendung zur früher verachteten Regionalgeschichte. Mit Interesse lese ich mir im Moment insbesondere die Frühgeschichte speziell kleiner Orte meiner eigenen Umgebung wie der Uckermark, Frankfurt, Rostock und Magdeburg durch.

Aber genau solcher Spaß darf nicht von der Masterarbeit ablenken. Aus der oft erwähnten Angst vor dem Lotterleben, wo ich 12 Stunden in der Bibliothek döse und über den grauen Himmel nachdenke, heraus habe ich eine (sehr) kleine Nebentätigkeit begonnen. Ich übersetze auf einer Internetseite kurze Marktmeldungen für Währungshändler aus dem Englischen ins Deutsche. Die Bezahlung ist marginal, aber ich habe gezielt die Schicht von 6.30-8.00 Uhr genommen, die mich aus dem Bett und danach direkt in die dann öffnende Bibliothek schaffen soll. Außerdem lerne ich so Fachvokabular.

Die Tage vor der Prüfung sowie unten erwähnte Ärgernisse haben in den letzten Tagen auch zu einem guten Jojoeffekt mit Schokolade, Keksen und Fastfood geführt. Am Freitag besuchte ich eine erste, sinnfreie, der sommerlichen Arbeitsmarkt-Infobörsen an der Uni. Samstag war ein ebenfalls enttäuschendes Fussballturnier, wo ich lediglich einen Sonnenbrand gewann weil ich einmal kurze Sachen trug, und das obwohl die Morgensonne sehr bald wieder Grau und Wind wich. Durch diese Aktionen ist Schloss Howard jedenfalls erstmal aufgeschoben, wird aber nachgeholt sobald das Wetter die leichtesten Anzeichen von Sonne zeigt. Dann baue ich das auch zu einer Radtour aus, 56km entlang der A64. Auf dem Hinweg liegt auch die Ruine der Augustinerabtei Kirkham und zurück fahre ich vielleicht mit dem Zug aus dem nahen Marktflecken Malton, laut Karte attraktiv den Fluss Derwent entlang.

Nachdem ich das bereits mit seinen Studenten gemacht habe, will ich zum Schluss auch mal ordentlich über mein Gastland herziehen. Letztens war ich kurz mit Freunden im Zentrum etwas trinken. Da ich sowas lange nicht mehr gemacht hatte, hat mich eine Erkenntnis wieder getroffen: in diesem Land kann man Samstag abend einfach nicht ausgehen. Diese Menge betrunkener, dicker, stilloser Menschen treibt mich wirklich jenseits der Gelassenheit; in jeder Bar muss man sich durch diese Masse zur Theke schlagen und quetschen, und eine Lautstärke herrscht, dass man sich nicht unterhalten kann und dann auch gar nicht erst ausgehen braucht. Gut, wenn man nicht reden kann, kann man wenigstens tanzen, aber das macht hier keiner bevor er nicht so widerlich betrunken ist, dass er auf allen Vieren durch den Mageninhalt anderer vor ihm durch die Straße in ein Taxi kriecht. Das ist ja bekanntermaßen das allgemeine Ziel hier, darum auch der Ansturm auf die Kneipen selbst wenn man nichts machen kann außer sich gegenseitig zu drängeln.
Die Männer sind allermeistens ist lautstarken Trupps unterwegs, sie fangen damit an wenn sie 14 sind und am Verhalten ändert sich danach nichts mehr. Auch die Frauen übrigens immer in Schlägertruppstärke, mindestens genauso laut, und sie zeigen viel mehr Haut als man wirklich sehen will. Ich frage mich immer, wie sich dieses Volk fortpflanzt...Ach, englische Frauen, ewiges Gesprächsthema unter Ausländern. Das geht ja schon zu Hause los: wenn man morgens ins Wohnzimmer kommt und da liegt schon wieder eine formlose Masse auf dem Sofa, grundsätzlich durch den Mund atmend, irgendein Gast der englischen Mitbewohner, verdreht so wie sie nachts betrunken dort hingefallen ist. Emilies Gäste sind immer hübsch. (Am hübschesten sind natürlich meine.) Dann die Küche wieder voll mit ungewaschenem Geschirr, was auch am Abend nicht verschwunden ist.
Tagsüber finde ich könnte ich noch ein paar Jahre in England bleiben, weil man nirgends so eine internationale Athmosphäre hat. Und nachts beobachte ich bei mir eine regelrechte Romantisierung meiner anderen Wohnorte, vergesse ganz kulant die unschöneren Aspekte Polens und sogar Magdeburgs – besser langweilige Menschen als sowas. Und in Magdeburg gibt es Bäckereien. Und trinken können sie hier auch nicht. Immer irgendwelchen höllischen bunten Mischungen, kein Wunder dass alle dreimal die Woche Filmriss haben. Und dazu nächtliche Käsepommes vom Imbisswagen in der Stadt, und zu Hause wird nochmal eine Pizza in die Mikrowelle geschmissen. Dann fällt man bewusstlos um, und bis sie abends wieder rauskommen liegen die Überreste in der Küche. Es ist ironisch, sechs Jahre habe ich gewartet, wieder nach England zu kommen, und an den Nächten des Wochenendes verstehe ich mehrjährig hier lebenden Bekannte, die möglichst schnell weg wollen.

Meine Mitbewohner tun wie immer auch nicht viel für die lokale Bindung. Am letzten Maitag ist plötzlich Ella ausgezogen, die letzte der ursprünglichen Bewohner. Da sie das ohne Ankündigung und Abschied gemacht machte, vermutete ich erst stark, dass ich soeben um die ausstehenden Rechnungensrückzahlungen geprellt wurde. Nun, abends habe ich sie doch kontaktieren können und scheinbar hat sie ihren Mietvertrag anders als der Vermieter interpretiert und ist daher schon raus.
Die Rechnungen sind ein typisches Beispiel für die Probleme in unserem Haus. Ich bin ja kaum zu Hause und niemand sieht die anderen sehr häufig. Genau darum lebe ich ja auch dort: da ich zu Hause eh nicht arbeite bin ich lieber so viel wie möglich an der Uni, und daher passt mir auch eine geringe Grundmiete, da ich persönlich separat kaum Strom, Gas oder Wasser verbrauche. Leider kann man das von den anderen nicht unbedingt sagen und diese Rechnungen werden ja geteilt – aber da sage ich in WGs muss man Kompromisse machen, irgendwie arrangiert man sich. Aber hier klappt das einfach nicht. Der grundsätzliche Pferdefuß ist die Kommunikation, gut zu sehen im Fall dieser Rechnungen. Das ist von Ella sehr ungeschickt gemacht worden. Ich bezahle jeweils Gas und Wasser und hole mir dann das Geld zurück. Sie macht dasselbe fürs Internet, nur hat sie scheinbar nie Geld von den anderen eingesammelt. Jetzt muss wieder ich das klären, die Rechnungen in ihrem Namen einsammeln und mit ihren Schulden bei mir verrechnen. Sie ist nämlich bis August zu Hause im Süden. Mann mann mann, als wenn außer mir noch nie jemand in einer WG gewohnt hat. Oder allein bis drei zählen kann. Und ich dachte ich wäre nicht sehr praktisch veranlagt. Ok wir sehen uns kaum, aber warum bin ich der einzige, der andere z.B. über Rechnungen informiert, per Handy, Aushang oder abends einfach mal klopft. Oder sich überhaupt erstmal um die Rechnungen kümmert...
So kriege ich also (nun, vielleicht) die Rechnungen zurück, aber bis das alles organisiert ist wird es dauern. Bisher wollte ich nicht den Chef spielen, aber nach dieser unangenehmen Überraschung hänge ich jetzt die Wand mit Mitteilungen voll: es muss Ordnung in dieses Haus. Man mag mir vielleicht Dummheit vorwerfen, die Organisation zu übernehmen und beim Geld einsammeln bisher relativ kulant gewesen zu sein. Aber wenn ich bedenke, was die Alternative gewesen wäre muss ich sagen – sonst hat das keiner auf die Reihe bekommen, irgendwer musste das Heft in die Hand nehmen. Ich habe das gemacht, weil das bisher in jeder WG geklappt hat. Ich habe immer gesagt, egal wie fremd man sich ist, wir sind alles halbwegs erwachsene Menschen und findet einen Weg, die Wohnung zu organisieren. Schließlich geht es nur ums Mitdenken; man braucht keinen Putzplan wenn einfach jeder Müll einsammelt den er sieht. Das liegt auch weder an kulturellen oder Altersunderschieden. Die Ukrainer haber ihre Rechnungen immer pünktlich bezahlt und sogar im geteilten Lodzer Wohnheimszimmer hat es gereicht, den Mund aufzumachen und man hat sich irgendwie geeinigt, wann das Licht ausgemacht wird. Aber hier klappt das ohne feste Regeln scheinbar einfach nicht. Niemand sagt was und dann wundert man sich, wenn jeder gegen jeden Vorwürfe hat. So einen simplen Mangel an Willen, Iniative und gesundem Menschenverstand habe ich noch nicht erlebt. Ehrlich, wer zieht aus, ohne vorher seine Rechnungen eingesammelt zu haben?

In organisatorischer Hinsicht helfen evtl. die neuen Mitbewohner Timm und Maria aus Bremen und Köln, die uns am 1.6. vorgestellt wurden. Sie kommen Anfang Juli, wenn sowohl Emilie als auch die zweite Engländerin auszieht. Nette Leute, beenden hier auch ihren Master in Theater und Film. Soweit ist es gekommen, dass ich deutsche Mitbewohner mit Erleichterung erwarte. Ihnen habe ich auch einige Plätzchen zum Probieren gegeben. Meine Dosen und Schachteln sind gefüllt mit Nussmakronen, Mandelkeksen, Vanille- und Zimtkipferln und sogar Bratäpfeln: Weihnachten kann kommen.