Sonntag, 23. Februar 2014

Sturm ums griechische Kaffeeglas

Meine kleine Vortragsreise nach Shifnal bei Birmingham war dann doch recht angenehm. Zum einen, weil ich dafür bei Kalina übernachtete, um am nächsten Morgen von Southampton etwas später loszufahren. So häufig nacheinander habe ich sie seit Jahren nicht gesehen. Der Zug war dann eine sehr besinnliche Sache. Ich konnte wunderbar schlafen und lesen und vor allem an einer Übersetzung arbeiten, bei der ich Kasia helfe. Alles Sachen, für die ich sonst nie Zeit habe. Das Gedicht übrigens hat mich wiederholt zum Lachen gebracht. Es stammt von Julian Tuwim, wie alle polnischen Lyriker von Bedeutung geboren in Lodz, und beschreibt, wie wohl im Deutschen Kaiserreich eine Revolution aussehen würde (wissenschaftlich als nötig erwiesen, von oben verordnet, perfekt organisiert und mit HurraDemKaiser im Gleichschritt durchgeführt). Das basierte auf den Beobachtungen Tuwims, als 1915 das deutsche Heer Lodz von den Russen eroberte und besetzte. Stil von Wort und Illustrationen erinnerten mich sehr an Wilhelm Busch, mit dem ich mich ja zu Weihnachten näher beschäftigt hatte. Und überhaupt war es schön, mal wieder mit Kasia an einer Übersetzung zu arbeiten.
Auch der Vortrag kam gut an und ich war eigentlich ganz froh, etwas aufs Land zu kommen und nach Veranstaltungsende noch ein wenig die Aussicht auf die Felder zu genießen sowie durch die windgepeitschten Kleingärten der Leute zu wandern. Denn das Wetter ist ja tatsächlich seit Mitte Dezember nur Regen und Sturm. Von den Überflutungen habe ich erst aus deutschen Briefen und Nachrichten erfahren, das betrifft Portsmouth nur wenig, aber auf dem Rückweg schien der Bahndamm zeitweise allein aus der Seelandschaft links und rechts zu ragen. Meine Verspätung hielt sich in Grenzen, aber ich bin in den Folgetagen ein paar Mal runter ans Meer gegangen und tatsächlich peitscht dort scheinbar jede Nacht die See die Steine vom Strand über die Promenade, die Straße dahinter liegt voller Kiesel und seit Wochen gesperrt, und der kleine See in meiner Nähe größer als gewöhnlich. Auch war ich gegen Mitternacht gar nicht alleine am Strand, auch andere Leute kamen zum Sturmtourismus. Ich konnte mich wie im Film schräg in den Wind legen und aus dem Dunkeln peitschte das Meer über den gesamten Strand auf uns zu. Das war eine angenehme Erfahrung in dieser von den Elementen eher entkultivierten Region. Meine Mitfahrgelegenheit zur Arbeit ist dagegen in letzter Zeit nie sicher, weil mein Fahrer oft gar nicht von der Isle of Wight aufs Festland kommt. Wenn er ies schafft, steht manchmal der gesamte Parkplatz unter Wasser, wo das Auto wartet. Bisher konnte ich auch meinen fortgegangenen Primärfahrer nicht ersetzen. Der zweite hört eventuell auch bald auf, dann wäre ich auf Züge angewiesen, was teuer und bei Sturm auch nicht immer verlässlich ist.

Ein wichtiger Teil meiner Arbeit (grob gesagt Blaupausen zum Berechnen von Variablen) ist abgeschlossen und ich schwebe etwas gemächlich in die nächste Phase (Prüfung, ob die Blaupausen auch funktionieren). In der Zeit habe ich etwas mehr mit Menschen gearbeitet und eine neue Kollegin in die Arbeit eingewiesen und mich für einen weiteren internen Vortrag freiwillig gemeldet.

Nach der Arbeit habe ich im Moment ordentlich mit Tango zu tun. Die Auftritte Ende April nähern sich und bevor unser brasilianische Lehrer auf Urlaub nach Hause fährt, haben wir einige sehr intensive Übungen eingeplant. Teilweise war ich da an beiden Wochenendtagen drei Stunden im Saal. Im Moment klappt das auch nur teilweise. Der Chor ist ebenfalls weniger freudvoll als gewöhnlich, weil diese moderne Musik ständig das Tempo wechselt. So sorgen meine Hobbies momentan gerne für Frustration gut. Dafür gab es zum Valentinstag einen schönen Tangoabend, an dem ich allen Frauen eine Rose gegeben habe. Im Chor besucht uns dagegen Anfang März die Komponistin, vermutlich um sich zu rechtfertigen.
Mathieu ist zurück vom Urlaub in Asien und gleich wieder auf Dienstreise nach Frankreich entflogen. Vorher konnten wir aber noch eine neue isländische Bar ausprobieren. Isländisches Bier wird getreu Deutschem Reinheitsgebot gebraut! Ebenso gut ist griechischer Kaffee, zu dem Ellie und ich eines Sonntagsmorgen eingeladen waren. Eine Woche vorher waren wir zum Geburtstag einer griechischen Tangofreundin eingeladen gewesen, deren Mutter uns sehr ins Herz schloss. Leider hatten wir diesen Geburtstag relativ früh verlassen müssen, als gerade erst die Volkstänze angefangen wurden, wie in den besten Tagen meines Studiums.

Neues aus dem Bereich englische Unzulänglichkeiten: Käsekuchen wird mit richtigem Käse gemacht, dafür nicht gebacken. Quark ist völlig unbekannt. Die armen Leute.

Sonntag, 9. Februar 2014

Nach fast einem Jahr in meinem derzeitigen Projekt haben wir am 23. Januar den ersten Teil unserer Datenbank veröffentlicht. Er ist hier zu finden:
http://www.ons.gov.uk/ons/guide-method/census/2011/census-data/census-microdata/microdata-teaching-file/index.html

Jetzt kann ich also etwas über meine Arbeit sprechen. Als 2012 alle Leute ihr Volkszählungsformular ausgefülllt haben, haben wir deren Antworten in einer großen Datenbank gespeichert. Darin hat jeder einen Zeile Daten mit seinen Antworten zu den einzelnen Fragen (Alter, Wohnort, Geschlecht...). Sowas nennt man Mikrodaten - mikro weil es die kleinste Datenebene einer Datensammlung ist. Daraus haben wir bisher klassische Tabellen veröffentlicht, die für verschiedene Orte die Gesamtzahl der Menschen mit einem bestimmten Merkmal summiert ("In London sind 34,000 Menschen 35 Jahre alt"). Das ist gut für öffentliche Ämter und interessant für den Durchschnittsbürger, richtige Wissenschaftler und Analysten brauchen aber mehr Details. Unsere Datenbank besteht aus einem Auschnitt aus der Zentralbank, mit den Datenzeilen für einzelne Personen. Man weiß also nicht nur, wieviele Menschen 35 alt sind, sondern auch, wer. Natürlich haben wir die Zeilen anonymisiert, private Informationen dürfen wir nicht einfach publizieren (das klingt immer schlimm, wenn wir sagen, wir geben individuelle Datensätze raus, aber ich gehe jetzt nicht ins Detail, wie wir das sicher machen). Mit der Datenbank kann man also selbst entscheiden, nach welchen Merkmalen man die Bevölkerung untersuchen will. Bisher war man davon abhängig, welche Themen wir zur Veröffentlichung auswählten. Zum Beispiel kann man sehen, wieviele Männer in Portsmouth 35 sind, zwei Autos haben, verheiratet sind, sich gesund fühlen und halbtags arbeiten. Das ist also ganz toll, weil man solches Wissen auf so lokaler Ebene nicht bekommt und schon gar nicht gratis, was neben armen Wissenschaftlern insbesondere öffentlichen Ämtern und aktivistisch gesinnten Bürgern hilft.
Diese Art Datensatz wurde schon aus den letzten zwei Volkszählungen erstellt und ist traditionell für Spezialisten bestimmt (dementsprechend heißt meine Abteilung "Spezielprodukte"). Dieses Mal machen wir mal etwas anders: wir geben drei verschiedene "Geschmacksrichtungen" raus. Jede gewichtet die Balance zwischen Datenfülle und Datensicherheit anders. Grundsätzlich kommt man umso schwieriger an Daten ran, desto mehr Details sie bieten. Je mehr man über eine Person weiß, desto eher kann sie nämlich im Datensatz identifizieren (auch wenn keine Namen drin stehen, so kann man doch z.B. den einzigen Arzt im Dorf erkennen und).
Der jetzt veröffentlichte Datensatz kann einfach aus dem Internet geladen werden und hat nur grundlegende Informationen. Er ist das erste Mikrodatenprodukt, dass gezielt an Laien gerichtet ist und in der Hinsicht mal etwas wirklich innovatives, auf das man fast stolz ist. Daher soll es möglichst einfach und einladend sein und muss sich nicht unbedingt zur ernsthaften Forschung eignen. Es heißt offiziell "Unterrichtsdatei", was meiner Meinung nach einen falschen Eindruck vermittelt, da es nicht nur eine gratis Resource für den Unterricht in Statistik (heute in fast allen Fächern nötig), sondern einfach dem normalen Bürger als Spielzeug dienen und die Angst vor Statistik nehmen soll. Dementsprechend wenig ansprechend finde ich die Umgebung, in welche die Datei ins Internet gestellt wurde. Endloser dröger Text, wo der Nutzer direkt an die Hand genommen werden sollte. Wir hatten ein ganzer Hilfspaket an Dokumenten für genau diese Zielgruppe zusammengestellt, aber die findet man nur, wenn man ohnehin schon Experte ist.

Eine meiner liebsten Aufgaben der vergangenen Wochen war auch ein Plakat über diese erste Mikrodatenbank. Das hing neben meinem Stand auf einer internen Konferenz Ende Januar. Dummerweise hat man die Stände in eine Ecke des Raums gestellt, wo sie garantiert niemand wahrnahm. Und so war die ganze Arbeit ein wenig umsonst, weil Besucherzahlen im einstelligen Bereich blieben - obwohl mein Plakat mit Abstand das beste im Raum war, wo sonst die üblichen textlastigen Detaillangweiler von Leuten des Öffentlichen Diensts hingen. Ziemlich enttäuschend, nachdem ich mich in der Gestaltung richtig wiedergefunden hatte. Dafür waren die Vorträge sehr interessant, da man in der internen Umgebung mal kein Blatt vor den Mund nahm. Was im Land der konfliktscheuen Höflichkeit immer erfrischend ist.
Eine weiteres Stück Präsentationsarbeit bleibt mir noch: am 12. Februar muss ich im kleinen Ort Shifnal nordwestlich von Birmingham einen Vortrag über "kulturelle Diversität" für unsere Interviewer halten, damit die nicht unversehens in Fettnäpfchen treten und möglichst viele Leute unsere Umfragen beantworten. Begeistert bin ich nicht, weil ich 9 Stunden im Zug sitze, die Chorprobe verpasse und nicht viel vom Thema halte.
Ab Februar arbeitet mein bisheriger Fahrer woanders und mein bisheriger Sekundärfahrer fährt nicht immer zu angenehmen Zeiten. Das machst es erstens schwierig, meine Sollstunden zu füllen und zweitens bin ich mehr auf Züge angewiesen. Und die fallen bei jedem im Fernsehen als Sturm vermarkteten Wind aus. Der Winter fällt dagegen dieses Jahr aus. Dafür fahre ich momentan täglich eine Stunde später los und der Extraschlaf bewirkt mit mir Wunder.

Kulturell passiert einiges. Nach dem spontanen Theater mit Mathieu habe ich mir allein den "Nussknacker" des Moskauer Stadtballetts angesehen. Vielleicht liegt es am vielen Tanzen, jedenfalls hat mir Ballett noch nie so gefallen. Nur das Publikum war eine Schande, Getuschel, Plastiktüten und einmal wurde direkt vor dem Orchester eine Bierdose aufgemacht. Kurz vorher bin ich mit Ellie zufällig in die chinesische Neujahrgala im Theater gestolpert, wo neben vielen wohlmeinenden Studentin eine Zitherspielerin auftritt, die mich schon auf einem früheren Konzert begeistert hatte. Als sie ein Duett mit einem Flügel spielte, kam fast ein Hauch HMT auf. In einem Monat sehe ich noch ein Musical, in dem Theresa auftritt, und dann Carmen, inszeniert von Moskauer Staatsballett und -oper.
Ähnlich war es auf der Geburtstagsfeier einer griechischen Freundin vom Tango, wo neben ebenjenem später auch etwas Volkstanz aufkam (über die Uni besteht wohl ein dichtes griechisches Netzwerk vor Ort) und mich an Studententage mit der Balkanfraktion erinnerte. Zudem war ihre Mutter zu Besuch und hatte (ich hatte etwas darauf gebaut) einen massiven Buffettisch aufgebaut.
Jene Griechin war auch auf dem ersten von mir und Mathieu einberufenen Spieleabend gewesen. Eine Idee, die ich mir in Weymouth abgeguckt hatte; selbst wäre auf sowas nicht gekommen. Mathieu und mich wollen das in Zukunft ausbauen, weil wir uns beide über unser weiterhin dünnes lokales Sozialnetzwerk Sorgen machen.

Dazu passt auch mein seit November erster Besuch bei Kalina in Southampton. Wir gingen einmal richtig ordentlich tanzen, in einem umfunktionierten Restaurant und fragwürdiger Musik und den langweiligeren Typen des Nachtlebens, und trotzdem hat mir das einen riesigen Spaß gemacht. Während mir Bilder auf Rostock Schnee zeigen, konnten wir Sonntag im Garten des Tudorhauses Tee trinken. Auch der große Park bei der Uni hat auf mich Eindruck gemacht mit seinem weitläufigen Grün (ich: "ich würde ja gerne mal wieder Magdeburg sehen!"). Ein ganz ausgezeichnetes karibisches Restaurant gibt es inzwischen auch. Vielleicht lag es an meiner Übermüdung, aber ich war stellenweise ganz aufgewühlt, mit einer inzwischen "alten" Freundin zu sprechen, die viele durchaus prägende Jahr mitgemacht hat.
Zuletzt: es gibt auf dieser komischen Insel auch keine Saunakultur! Nur eine Sauna in Portsmouth – und dahin geht man angeblich im Schwimmanzug. Hätten diese Leute tatsächlich irgendwelche Schamgefühle, würden sie stattdessen an ihrem Samstagnachtverhalten arbeiten.