Montag, 24. März 2014

Laudate Cecilie Alme Matri Chori

Das beste Wetter des März war dem Wochenende vorbehalten, an dem Ellie in ihre neue Wohnung umzog. Ich starb innerlich, als ich mit ihrer Mutter neben deren Lieferwagen stand, das Himmelsblau sah und nicht rausfahren konnte. Zumindest war der Umzug unkompliziert, jedenfalls aus meiner Sicht, während die sicherheitsbedürftige Ellie Wochen vorher zittrig wurde, ihr kleines Nest aufzulösen. Jetzt wohnt sie um die Ecke als Untermieterin bei Freunden (und Tanzlehrern) und hat sich problemlos in ihren neuen Räumen eingefunden. Oft zweifle ich an meinem herumtreibenden Leben, aber das stellte ich in letzter Zeit wiederholt fest, es hat mir wohl mehr Gelassenheit angewöhnt, als mir ewigem Zauderer von Natur gegeben war.

Dann fiel die Temperatur merklich und die Jacke kam wieder aus dem Schrank. Trotzdem habe ich endlich einen Frühlingsausflug gemacht. Das hatte mir Landkind physisch unter den Nägeln gebrannt, seit die Sonne rauskam und ich auf dem Radweg jeden Morgen grüne Felder und blauen Himmel sah. Bisher ging das aufgrund all der Proben an Wochenendnachmittag nicht, während Mathieu bereits fröhlich auf der Isle of Wight radelte. Schließlich legte ich den Tag nach dem Konzert fest, bevor Mathieu für drei Wochen auf Dienstreisen ging. Gewählt wurde der Neuwald westlich von Southampton, wo Mathieu und ich schon im letzten Mai zelten gewesen waren. Wechselhafte Wettervorhersagen hielten Ellie von der Teilnahme ab, aber ich musste unbedingt einmal raus aus der Stadt.

Der Optimismus zahlte sich wieder aus. Zwar herrschte Aprilwetter mit buchstäblich Hagel und Sonnenschein innerhalb von fünf Minuten. Aber das störte mich genausowenig wie die weiterhin stellenweise überfluteten Wiesen, als wir an einem Bach entlangliefen. Zu sehr gefielen mir die Stille und das Grün, ganz zu schweigen von den Pferden, die in Wiese und Wald wieherten. Besonders schön war für mich ein spontanes Picknick auf einem großen Baumstamm, den wohl ebenfalls die Stürme umgeworfen hatten. Etwas kühl bei Wolken, aber eine ganz tolle Erfahrung für mich. Einmal stand ich oben auf der hölzern Wurzel und sang Schuberts Wanderlieder in den Wald. Anschließend wärmten wir uns in in einem Herrenhaus mit Tee und Büchern vor dem Panoramafenster auf. Nach einem zweiten Spaziergang durch den Wald fuhren wir bei Sonnenuntergang nach Hause.

Kultur gab es wieder genug. Ellie hat mir ihre Abschlussarbeit zum Lesen gegeben ("warum verbinden wir Filmkomödien mit bestimmter Musikuntermalung") und eine neue Kollegin einen interessanten Artikel aus der Ökonomie (man ist eben doch immer noch gern Freizeitakademiker) und ausserdem habe ich mit Schloss Gripsholm endlich den Tucholsky Sammelband aus Rostock ausgelesen. Ein Konzert des Uniblasmusikorchesters haben den Snob in mir gekitzelt, der sich anstrengen musste, Film- und Populärmusik zu akzeptieren. Vorgeschlagen hatte das Ellie, es schlossen sich Mathieu, Theresa und Laia an.

Höhepunkt war selbstverständlich das Chorkonzert mit Werken der zeitgenössischen Komponistin Cecilia McDowall eine Woche später. Sie soll wohl auch der Universität eine Hymne schreiben. Die Stücke hatten mir anfangs gleich gefallen, dann verlor ich etwas den Antrieb (nachdem ich die Musik gehört hatte, die mich stellenweise an Hollywood erinnert), zum Konzert kam er wieder zurück. Aber wie mit Poulenc vor einem Jahr hatte die moderne Komposition ihren Reiz, denn man muss mehr Acht geben als bei harmonischen Barockmelodien. Aufgrund der Akustik hörte ich im Konzert praktisch keinen der anderen Bässe und fast nur die Soprane. Speziell stand Ellie direkt hinter mir und wohlgleich mir ihr Können bekannt war, hörte ich hier mal ganz deutlich, wie gut sie wirklich ist. Insbesondere singt sie präzise und dient mir als Metronom, wenn ich die erfahrenen Bässe nicht höre. Und das macht sie alles aus dem Gedächtnis, ich muss dafür lange üben.
Als besondere Zugabe stand Cecilia im Konzert höchstselbst Rede und Antwort. Besonders interessant war dabei, dass sie Musik erst mit Ende 40 anfing und sehr schnell so scheint es zu den Größen der modernen Klassik aufstieg. Während ich bei ihrem ersten Besuch bei einer Probe nicht sicher war, was sie nun von uns denkt, waren wir jetzt alle beeindruckt, wie nett sie ist. Ich habe mir gleich ein Foto mit ihr machen lassen, und sie bat, es ihr doch auch zu schicken.
Leider haben wir auch erfahren, dass unser Dirigent den Chor nach gut elf Jahren abgeben will. Verstehen kann ich ihn, es ist für die meisten Sänger eben nicht mehr als das Mittwochsabendhobby. Aber fehlen wird er uns sehr, denn wer ihn gesehen hat weiß, das seine Art dem Chor einen besonderen Charakter gibt.


Cecilia McDowall nach dem Konzert.

Es hagelt im Neuwald...
...und fünf Minuten später sieht es so aus.
Unser Mittagstisch.
Mathieu hat eine Paprika aufs Messer gespießt (kein Glas).


Sonne und Wald...
Die Pferde laufen weiterhin frei durch den Neuwald.

Montag, 10. März 2014

Die Hyazinthen aus dem letzten Jahr blühen ganz unerwartet aus ihrer im Garten ganz vergessenen Keksdose. Bald nach dem letzten Bericht verschwanden Sturm und Regen und inzwischen herrscht regelmäßig geradezu Frühling. Soviel, dass ich für Radfahrten bereits Jacke mit Pullover vertauscht habe und viele Ideen für Frühlingsausflüge bekomme. Desweiteren ist die Seepromenade wieder im Sommermodus. Spaziergänge machen wieder Sinn, und an einem Samstagmittag saß ich mit Mathieu und Ellie draußen in einem Cafe am Meer. Später lagen wir direkt auf dem Strand in der Sonne und ich sah hinter dem Frühling direkt den Sommer auf uns zukommen. Schon gibt es die ersten Abende, an denen ich zwischen Büchern und Strand zerrieben werde.

Auch Kultur gab es zuletzt genug. Zum einen habe ich Kasias Weihnachtsgeschenk ausgelesen, Pierre Magnans Buch 'Unschuld'. Daneben bewege ich mich sehr langsam durch Tucholskys Gripsholm, weil ich durch Tango und Chor kaum zum Lesen komme. Mit Mathieu, Ellie und weiteren Bekannten habe ich die Uniproduktion der Operette "Der Mikado" von Gilbert & Sullivan gesehen. Ursprünglich, weil Theresa darin auftragt, hat es auch mir sehr gefallen, der ich Musiktheater sonst nicht ganz ernst nehmen kann. Mitgespielt hätte ich nichtgestoweniger liebend gern, nur hätte ich nie die Zeit gehabt. Anfang März sahen wir drei dann 'Carmen' in der Produktion des Russischen Staatsballetts und -openhauses. Das war eindeutig besser als die Vorstellung vor einem Jahr und besonders das Orchester hätten Ellie und ich am liebsten gleich dabehalten. Denn unser eigenes Konzert nähert sich schnell und unsere Musiker sind eben auch Amateure wie wir. Nachstehend ist unser gerade veröffentlichtes Plakat zu sehen. Am 5. März besuchte die Komponistin Cecilia McDowall selbst die Probe und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie es nun tolerabel fand oder nicht. Das ist das Problem in einer höflichen Gesellschaft, man weiß ja nie, woran man ist.
Ganz ähnlich meine Gesangslehrerin. Hat mir eine liegengelassene Edition von Schuberts Schöner Müllerin erhalten. Ob nun als Fortschritt oder weil ich die italienischen Übungsliedern nicht auf die Reihe bekomme.... Textlich finde ich die Romantiker schrecklich, aber es ist schön, in der eigenen Sprache eingängige Melodien zu singen. Leider hat sie mir bei der Gelegenheit auch gleich die Winterreise gezeigt, deren Lied vom Leiermann mir seitdem nicht von der Tränendrüse geht.
Schließlich wird Tango zu einer echten zeitlichen Belastung. Fast jedes Wochenende haben wir Probe, manchmal beide Tage. Langsam wird mir das zuviel, weil man so nie aus der Stadt kommt um den Frühling zu genießen.

Gut gelaunt bin ich hilfsbereit. Für eine deutsche Doktorantin habe ich nach längerer Zeit mal wieder an einem Experiment teilgenommen. Dabei habe ich an anonymen Gruppen kontroverse Themen besprochen und sie untersucht dann wohl das Interaktionsverhalten.
Ellie dagegen habe ich beim Umziehen geholfen. Sie ist die Straße runter als Untermieterin zu Freunden gezogen und konnte sich partout nicht vorstellen, dass Umziehen einfach sein kann.

Auf der Arbeit ändert sich einiges. Zum einen sehe ich mich in Sachen Arbeitsanfahrt plötzlich ganz an den Anfang versetzt und muss jetzt gewöhnlich Zug und Rad fahren. Mein letzter Fahrer hat jetzt aufgehört, und unter den 800 Leuten im Büro findet sich scheinbar niemand, der aus Portsmouth anfährt. Obwohl es von Bahnhof zum Büro nur 20 Minuten Rad sind, bin ich letztens abends oft müde und sehe mit Sorge auf die Zeit- und Kraftgrundlage, die mir bisher ein interessantes Leben nach der Arbeit ermöglicht hat.
Zum einen bin ich fast zwei Jahre in der Volkszählung, darum muss mich jetzt laut Amtsvorschrift zur Versetzung in eine neue Abteilung bewerben. Glatt gegen meinen Willen, wo ich mich endlich kompetent genug fühle und richtig produktiv sein kann. Ich arbeite sogar neue Leute ein, ausgerechnet ich! Und das nur ein paar Monate vor Abschluss des Projekts. Wohin es geht ist noch nicht klar, aber die halbe Abteilung migriert, und neue Leute sollen kurz vor der Zielgeraden unsere Aufgaben übernehmen.
Die "Diversitätsgruppe", die mich ja schon auf Vortragsreise geschickt hat, ging es letztens einen Tag nach Southampton zur Wohltätigkeit. Wohlpubliziertes Sozialengagement von Firmen ist hier Tradition. Wir halfen in einem Tageszentrum für Obdachlose. Ich habe Kleiderspenden geordnet und die Kleiderkammer auf Vordermann gebracht. Davon abgesehen gab es nicht wirklich genug zu tun und im Ganzen war das ein netter freier Tag. Kalina habe ich nicht sehen können, ihr dafür Blumen hinterlassen.

Rubrik Englische Unzulänglichkeiten: kein Pudding. Englischer Pudding ist irgendwas aus Nierenfett. Für deutschen Pudding gibt es nichtmal wirklich ein Wort. Und Ellie findet das auch noch gut. Zum Glück hat Lidl dafür seit kurzem frische Brötchen.


Konzertposter mit Cecilia McDowall.