Ich
habe eine lange Liste mit Zielen und Plänen. Die Insel Hayling war
eins der kleineren, aber das große war seit dem ersten Besuch ein
ganzes Wochenende mit Zelt auf der Isle of Wight. Früh rüber, früh
schlafen, früh wieder raus. Zwecks Mitfahrern habe ich das auch
wochenlang unter Kollegen beworben, besonders dem Ausländerklub.
Niemand hat sich gemeldet und am Ende hat auch noch Adriana
kurzfristig abgesagt. Nicht nur für die Isle of Wight, sondern
allgemein ist sie 'bis auf weiteres nicht verfügbar'. Abgesagt hat
auch die Kollegin, die ursprünglich Unterkunft angeboten hatte. Aber
ich wollte nicht noch länger warten, nicht nochmal verschieben, denn
wer weiß, wie in diesem Land in einer Woche das Wetter ist, gerade
mit Herbstbeginn. Noch bin ich weit von der Ruhe entfernt, die ich
vor zwei Jahren in York gespürt habe, als ich zum ersten Mal am
liebsten den ganzen Tag am gleichen Ort gesessen und gelesen habe. Im
Gegenteil ist meine Stimmung ganz überraschend dicht an die Zeit des
Abiturs gekommen, voll Frustration mit den Menschen und
Selbstmitleid. Zumindest die irische Kollegin, die auch beim Theater
war, hat sich für den Sonntag mit Auto angekündigt. Daher sollte
der Samstag zünftiges Radeln werden, immer am Meer entlang, und der
Sonntag dann der Besuch einiger Kulturobjekte, darunter Haus Osborne
(Wohnpalast von Königin Viktoria), die „Nadeln“ (eine Reihe von
weißen Kalksteinfelsnadeln an der Südwestspitze) und die römische
Villa bei Brading.
Ich
hatte große Erwartungen: alles sollte einmal anders werden als unter
der Arbeitswoche. Alles, was ich seit Jahren machen will und nie
schaffe. Ich freute mich darauf, endlich, endlich
früh zu schlafen (spätestens bei Sonnenuntergang), früh
aufzuwachen (mit Sonnenaufgang), im Meer zu baden. Am Meer, immer am
Meer zu sein. Viel zu lesen, nachmittags bei Bedarf auf dem Feld zu
schlafen, Briefe zu schreiben. All die Sachen, die seit Wochen
rumliegen und nicht gemacht werden, weil ich zuletzt kaum vor 19 Uhr
das Büro verlasse.
Bei
Abfahrt am Samstag morgen habe ich gemerkt, dass ich die Freizeit
zuviel allein verbringe. Die Stimmung geht rauf, weil was passiert,
und im nächsten Moment runter, weil man das Gefühl nicht teilen
kann. Ein ständiges auf und ab, das zeigt, dass ich innerlich noch
überhaupt nicht zur Ruhe gekommen bin und nicht zu vergleichen mit
der Zeit in York, als ich nirgendwohin fahren musste, sondern
glücklich war, jeden Tag in der Bibliothek zu lesen. Hier fehlt mir
dazu absolut die innere Ruhe, und vermutlich auch das Sozialleben als
Gegengewicht.
Aber
gefreut habe ich mich auf die Abfahrt wie auf Weihnachten. Wie beim
ersten Besuch war auf der Insel gerade ein großes Musikfestival.
Schon an den Vortagen hatte ich morgens am Hafen Scharen junger Leute
mit Rucksäcken und Zelten gesehen. Unter den Festivalbesuchern habe
ich auf der Fähre auch gleich zwei Italienerinnen kennen gelernt und
mit ihnen zum guten Anfang einen Kaffee auf der sonnigen
Landungsbrücke in Ryde getrunken. Ich musste erstmal wieder
auftauen, mit Menschen privat zu reden, nicht arbeitsbezogen.
Der
Himmel war strahlend blau und das Wasser glitzerte wieder unter der
Sonne. Der Wetterbericht sagte, es sollte bis Sonntag Mittag so
bleiben und sich dann bewölken. Trotz allem: nichts hier kann sich
mit Stränden, Wasser und Grün der Ostsee vergleichen. In der Tat
schweifen meine Gedanken derzeit auf der Arbeit häufige nostalgisch
ab.
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Der Hafen bei der Abfahrt. Ein neuer Segler liegt am Kai. |
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Auf der Überfahrt ist blau alles was ich mag. |
Nachdem
die beiden Italienerinnen Richtung der Inselhauptstadt Newport weg
waren, bin ich wie immer nach Osten nach Seaview gefahren und habe
eine weitere Pause gegenüber meiner Wohnung und der Insel Hayling
gemacht, wo ich letzte Woche gewesen war. Ihre gesamte Seeseite ist
ein einziger langer Strand. Dann bin ich kurz in ein
Vogelschutzgebiet, davon gibt es hier viele (zum Beispiel jenes am
Ende des Kanalwegs von Titchfield zum Meer, und die Insel Hayling ist
selbst ein großes Schutzgebiet) und alle sind 'international
bedeutend'.
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Glückliche Vögel. |
Und
dann habe ich leider zu viel Zeit und Kraft auf den kleinen Fuß- und
Reitwegen verloren, die die Felder und Wälder der Insel so
verführerisch durchziehen. Ich wollte die Ostküste meiden, wo ich
letztes Wochenende gewesen war, und direkt an die Südküste
gelangen. Nur habe ich das ganze Wochenende die Entfernungen
unterschätzt. Als ich am zeltbedeckten Festivalhügel vorbeigekommen
bin, merkte ich, wie weit die Südküste noch weg ist und fing wieder
an, sauer auf mich zu sein, weil wieder ein Ausflug wegen ungeprüfter
Ziele mehr Schweiß und Stress mit Gepäck als Entspannung am Strand
ist.
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An einem sehr engen Feldweg. |
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Goldene Felder zur Erntezeit. |
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Auf dem ersten der vielen Hügel. |
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Portsmouth noch recht nah. |
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Der Zeltplatz des Festivalgeländes. |
So
bin ich erst gegen sechs ans Meer gekommen und dann ist alles
Steilküste. Kein einfacher Zugang zu Sandstränden wie bei dem
Ausflug von Warnemünde nach Heiligendamm im Mai, der hierfür halb
Pate gestanden hat. Im Wald hinter den Dünen übernachten wollte
ich, morgens aus dem Zelt direkt in Wasser springen wollte
ich...unbewusst. Hier gibt es keine Dünen und schon gar keinen Wald.
Erst gegen sieben bin ich an einen Strand gekommen und habe in dem
Moment gemerkt, dass vor kurzem mein Handtuch vom improvisierten
Gepäckträger gefallen sein muss. Strände habe ich auch schon
bessere gesehen. Aber zumindest Sand. Und das Schwimmen tut wieder
seine Wirkung. Neben dem Müll bemerke ich jetzt auf das ruhige
Wasser und den Sonnenuntergang neben den weißen Klippen am
Südwestzipfel der Insel, die mir hier zum ersten Mal bewusst werden.
Sie sind der Beginn des Nadel-Parks und damit die mein Ziel für den
nächsten Morgen. Die Kinder, die ich argwöhnisch in den
Augenwinkeln behalten hatte, haben jetzt einen Vater, der mit ihnen
ein Lagerfeuer macht. Und ich bin bereit fürs Bett. Wo die Sonne weg
war, musste sowieso schnell ein Ort zum Schlafen gefunden, bevor es
dunkel und kalt wurde. Das Zelt hatte ich mir geborgt, einen neuen
Schlafsack auf der Insel selbst gekauft, und für mehr Komfort hatte
ich noch meine Luftmatratze eingesteckt.
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Kein Fahrrad, kein Stress. |
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Die letzten Sekunden Sonne nach dem ersten und letzten Schwimmen am Samstag. |
Entlang
der langen Straße, die die gesamte Südküste lang läuft, war ich
bis Brightstone gekommen. Dieses kleine Dorf hatte meine Aufmerksam
durch eine gut gemacht Broschüre erregt. Eigentlich wollte ich es
als letzten Tagespunkt besichtigen und dann in der Nähe übernachten.
So blieb erstmal nur die Übernachtung. Halb bewusst hatte ich den
Gedanken den ganzen Tag über vermieden. Denn für den Zeltplatz
wollte ich nicht zahlen und bei der Suche nach einem Feld (davon
sollte es im ländlichen Süden genug geben) merkte ich, dass ich
wahnsinnig und unsinnig nervös war. Ständig die Fantasie, dass mich
der Bauer findet und wer weiß was macht. Kein schlimmeres Gedanke,
als ohne Platz für die Nacht zu sein. Darum bin ich wohl nie
verreist, ohne vorher ein Bett gebucht zu haben. Das wirkliche
Problem: als ich mich zum Feldfriedensbruch zwischen Mais und einem
Eichengebüsch entschlossen hatte, und konspirativ mit abgeblendeter
Fahrradlampe im Gras arbeite, stelle ich mich als zu dumm heraus, das
Zelt aufzubauen. Nach längeren Versuchen improvisierte ich und
benutzte die Plane als Decke. Das war überraschend warm und auch gut
so, denn der neue Schlafsack schien auch etwas zu kurz. So unrecht
war mir das Freiluftschlafen gar nicht, schließlich war es mir um
etwas Kontakt mit den Elementen gegangen, solange die nur trocken und
nicht zu kalt sind und ohne Raubtiere, oder Bauern auf
Mitternachtspatrouille. Aber der Sternenhimmel! Ohne Wolken, die
ganze, lautlose Milchstraße. Komplett mit Sternschnuppen. Wieder
einmal dachte ich mir, dass ich sowas schon früher hätte machen
sollen.
So
wirklich toll habe ich doch nicht geschlafen. Ständig gelauscht, was
da gerade wieder durch den Mais raschelt, und den Mond übers
Sternenrund wandern gesehen. Mit dem ersten Licht um sechs bin ich
aufgestanden, so wie es sein sollte. Schnell die Sachen zusammen
gepackt und aus dem Feld. Danke für die wasserdichten Schuhe!
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Mein Schlafplatz am Morgen. |
Morgens
warten aber doch tolle Ansichten. Jetzt hatte ich Zeit für
Brightstone, das in der Tat ein wunderschönes kleines Dorf ist. Mit
der steigenden Sonne und krähenden Hähnen bin ich den Mühlenbach
mit Drachenbaum entlang gefahren, die Kirche, wieder zum Strand. Der
Zeltplatz am Zugang die Klippen hinunter hält Tiere, Ziegen und
Esel. Als ich um sieben an den Strand gekommen bin, war erst ein
Zipfel von der Sonne erfasst, die gerade über die Klippen stieg. Als
ich wieder aus dem Wasser kam, war der ganze Strand hell, und in der
Ferne strahlten wieder die weißen Felsen. Ich bin in die Morgenmesse
in der Dorfkirche gegangen, wo mir dann ein weiteres Dorf empfohlen
wurde, Shorwell zwei Meilen östlich. Das war ein wunderbar grüner
Ort, zur Abwechslung richtig im Wald, an einem Bachtal, die alten
Häuser aus Kalkstein und mit Reeddach Die alte normannische Kirche
mit schweren, dunklen Dachbalken aus Eiche. Alle Kirchen hier sind
offen und alle haben einen Büchertisch.
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Die Kirche von Brighstone wird von den ersten Sonnenstrahlen berührt. |
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Der Kirchfriedhof. |
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Zum morgendlichen Schwimmen am Meer. |
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Der gleiche Strand am Morgen. Die Klippen gehören zu den Nadeln. |
Die
Westen der Insel ist in der Tat der ländlichste und am Sonntag sind
noch weniger Menschen unterwegs. Hier ist das Fahrrad in seinem
Element, man kommt in Minuten von Dorf zu Dorf, in jedem eine alte
Kirche, auf einem Kirchplatz mit Eichen. Viel Grün, alte Reedhäuser
mit gepflegten Vorgärten (Geld ist wie gesagt offensichtlich
vorhanden) und dahinter das Meer. Zwischen den Orten abgeerntete
Felder, dazwischen Hecken, und dahinter wieder das Meer. Wie auf dem
Darß. Noch ein Stück weiter westlich bin ich durch richtige Alleen
gefahren. In Mottistone, gleich ein Dorf nach Brighstone, fand ich ein altes Herrenhaus, dass vom National Trust verwaltet wird. Das Haus selbst wird bewohnt, aber der Garten ist zugänglich und an diesen noch sonnigen Vormittagsstunden ein Paradies. Seit mindestens dem 12. Jahrhundert liegt das Anwesen dort auf einem Hügel mit dem besten Blick auf das Meer.
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Der Gärten des Herrenhauses Mottistone nahe Brightstone, mit örtlicher Kirche dahinter. |
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Haus Mottistone, in bester Lage seit mindestens 900 Jahren. |
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Der Hausgarten. |
Den
Samstag und Sonntag morgen hatte es kein Zeichen von Sarah gegeben,
und nach den letzten Erfahrungen plante ich lieber für den Fall,
dass auch sie nicht kommt. Darum bin ich gleich Richtung Nadeln
gefahren und nicht zum weiten Fährhafen im Nordne, wo sie ankommen
würde. Erst gegen elf rief sie an, und erst gegen Mittag hatte sie
die erste Fähre verpasst, und das ohne Auto, weil zu teuer. Ich
hatte inzwischen aber selbst gesehen, dass ich auf die Nadeln besser
verzichte. Das ist nämlich ein ganzer Naturpark und sehr hügelig.
Und von Bergen hatte ich die Nase voll: davon gibt es auf der Isle of
Wight überraschend viele. Ich musste mich die Küstenserpentinen bis
kurz vor den Naturpark kämpfen, dessen weiße Klippen langsam von
weißem Nebel umhüllt wurden, als es sich wie angekündigt bewölkte,
aber dann brauchte ich eine Pause wegen Erschöpfung. Der neue Plan
war, direkt zum Schloss zu fahren und zumindest das zu sehen. Wieder
unterschätze ich aber die Entfernung von der Westspitze bei Yarmouth
bis zum Hauptort Newport. Gute zwei Stunden kämpfte ich mich die
Straße entlang und war erst kurz vor vier am Tor. Das ließ zwei
viel zu kurze Stunden für die Besichtigung von Haus und Park,
einschließlich Strand und der Schweizer Hütte. Haus Osborne war der
Privatsitz von Königin Viktoria und ihrem Albert, ganz primär als
unzeremonieller Ort zum Aufwachsen ihrer Kinder. Ich zog eine Bank
vor der Pferdekoppel vor langem Laufen vor. Bei einsetzendem
Herbstwetter in einem gut gepflegten Landschaftspark etwas durchaus
angenehmes. Sarah und ich trafen uns erst kurz vor Torschluss, da sie
bereits ganz woanders auf dem weiten Gelände war. So blieb von einem
Tag gemeinsam etwa eine Stunde.
Dann
mussten wir zurück zu unseren jeweiligen Fähren, meine noch etwa
eine weitere Stunde weg in Ryde. Nichtsdestoweniger sind die Straßen
auf der Insel so grün und gesäumt von Bäumen, Feldern, alten
Herrenhäusern und Höfen, dass ich singe soweit der Atem reicht.
Eine letzte Station lag noch auf dem Weg, die Abtei Quarr, ein
bewohntes Benediktinerkloster. Ich kam lange nach Torschluss, aber
das Gelände mit Schweinegehege, Garten und Apfelplantage waren noch
offen. Ich kam auch zu spät für eine der lateinischen Messen, aber
die Klosterkirche war wenigstens nicht verschlossen. Sie ist modern
und kahl, aber man konnte noch den Weihrauch riechen und ganz am Ende
des völlig dunklen Schiffs fällt Licht durch die vier
Lanzettfenster.
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Pause. |
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Die Sandstrände der Südküste. |
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Näher bin ich den Nadeln nicht gekommen. |
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Haus Osborne. |
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Die Abteikirche von Quarr. |
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Die Brombeerend sind fast vorbei, der Holunder kommt, und ich erinnere mich ans Apfelpflücken vor einem Jahr. |
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Klosterschweine. |
So
habe ich am ersten Tag wenig vom geplanten Meer gesehen, und am
zweiten praktisch nichts von den geplanten Anwesen. Darum stand auch
schon am Samstag fest, dass ich das Wochenende am besten gleich
nochmal wiederhole. Diesmal habe ich schnell eine Übernachtung bei
einer Französin vereinbart, über das Netzwerk, das sonst mir Gäste
ins Haus gebracht hat. Etwas nützliches habe ich noch gelernt: in
einer Reflektorweste, wie ich sie fürs Radfahren habe, wird man oft
für einen Mitarbeiter der Institution gehalten, in der man sich
gerade befindet. Stellt man sich an der Fähre direkt neben die
Kasse, halten alle Leute Abstand, und keiner versucht, sich vor mich
zu stellen. Und in der Schlange stieß ich auch genau auf die beiden
Italienerinnen von der Hinfahrt.
Gelesen
habe ich nichts, nichts geschrieben, nicht mehr geschlafen als sonst.
Zurückgekommen bin ich absolut erschöpft, meine Beine brauchten
erstmal einen Tag Pause. Aber zum ersten Mal seit langem habe ich das
Gefühl, dass ich mit meiner Zeit etwas gemacht habe. Nach dem
Wochenende hätte ich kein Problem, ein Wochenende in der Bibliothek
zu verbringen. Aber noch gibt es zu viele zu sehen, gerade jetzt, wo
der Winter spürbar näher rückt.