Montag, 28. Januar 2013

Ecce gratum ver!

Der Januar war ein Monat ruhiger Wochenenden und trotzdem kritischen Schlafmangels. Trotz guter Vorsätze habe ich schnell wieder angefangen, zu spät zu schlafen. Höhepunkt war ein Tag Schnee, für den sofort die Katastrophenpläne aus den Schubladen geholt wurden. Kein Wunder, einheimische Kollege sagen sie sähen zum dritten oder vierten Mal im Leben Schnee in diesen Breiten. Also wurde schon am Vortag dieses einzigen Schneetags geplant und überlegt, ob das Büro nicht am besten gleich geschlossen wird. Das wurden dann zwar nur andere (der öffentliche Dienst arbeitet, die privaten nicht!), aber mein Team war auch das einzig vollständige auf der sonst außergewöhnlich stillen Etage, da viele Kollegen lieber zu Hause blieben. Schließlich sind die Straßen so eine Sache, wenn Winterreifen weder Pflicht noch leicht erhältlich sind. Dementsprechend habe ich reihenweise durchdrehende Reifen schon an kleinen Steigungen gesehen, und dutzendweise wurden Autos auch einfach am Straßenrand verlassen. Ein Kollege hat so wohl einmal sechzehn Stunden im Wagen verbracht. Am 30. Januar veröffentlichen wir den nächsten Satz Daten aus der Volkszählung. Diesmal sind die Arbeiten dazu aber erstaunlich pünktlich verlaufen und die Chefs haben weniger Stress als früher. Mitte Februar geht meine direkte Vorgesetzte für ein halbes Jahr in ein anderes Projekt, Ersatz kommt wurde aber noch nicht verraten.
Am zweiten Januarsonntag war ich zum ersten Mal bei der russisch orthodoxen Gemeinde, die sich ca. alle zwei Wochen zu mir bis dahin nie passenden Terminen trifft. Zu meiner Überraschung besteht die kleine Gruppe überwiegend aus Briten. Einen sehr guten kleinen Chor haben sie auch für ihre Gesänge, die für mich der Hauptanziehungsgrund sind. Ich habe danach brav beim Abbauen geholfen und wurde zum Gemeindeessen eingeladen. Dabei habe ich eine der vielen lokalen Bulgarinnen kennen gelernt, die gerne singt und an der Uni arbeitet. Darum habe ich sie zum Unichor eingeladen. Die ist am folgenden Mittwoch auch tatsächlich erschienen und hat sogar gleich eine Freundin mitgebracht, aber besonders begeistert sahen sie dann nicht aus und sind auch nicht wieder gekommen. Überhaupt hat der Chor über Weihnachten ein seiner Drittel Mitglieder verloren. Das ist zum neuen Jahr wohl normal, für mich aber trotzdem wieder ein Zeichen, wie wenig die meisten Menschen machen.
Ein erfolgreicherer Kontakt ist allein mein französischer Bekannter Mathieu, mit dem ich wieder beim Filmverein zu Dark Horse und danach trinken war. Im Pub haben wir eine Gruppe Leute kennen gelernt, die mehrmals die Woche unter Anleitung von Armeeangehörigen auf der großen Wiese am Meer Sport treiben, was ich mir vormerkte. Einige Tage darauf bin ich noch einmal allein in den polnischen Film In Darkness von Agnieszka Holland gegangen. Der behandelt eine Gruppe Juden in der Kanalisation von Lemberg und ist mir aufgrund der vertrauten Sprache und Umgebung mehr an die Nieren gegangen, als ähnliche Filme früher.
Samstag morgen habe ich mich tatsächlich der Sportgruppe angeschlossen, die nicht weit von meinem Haus auf der großen Wiese am Wasser trainieren. Nach zehn Minuten hab ich gejapst und habe nach weiteren zehn schamvoll aufgageben. Trotzdem ist das eine gute Art, das Wochenende zu beginnen. Das war gerade an diesem wunderschönen Sonnenmorgen zu merken, der nach dem Herbst und Winter eine erste Ahnung brachte, was in einer Seestadt der Sommer bringen könnte. Morgens als es noch still war, klarer blauer Himmel, glitzerndes Wasser, Möwenkreischen, Schiffe. Keine zehn Minuten weiter habe mir zum ersten Mal vom Markt am Fischereihafen eine frische Makrele zum Mittag geholt. Auf dem Rückweg sah ich, dass dieser Morgen die Leute aus den Häusern geholt hatte, und sie zum ersten Mal durch die Einkaufsstraße von Southsea flanierten und durchaus schon draußen vor den Cafés saßen. (Am folgenden Montag gab es einen richtig ordentlichen Sturm, mit handfester Brandung, die schönen Tanggeruch in die Nase trieb, und das weckt in mir das gleiche Glück, am Meer zu leben, wie ein Sonnentag.) Zum Makrelenmachen ist der nicht weit wohnende Mathieu gekommen, der mich auf den Fischmarkt erst aufmerksam gemacht hatte. Selbstredend will ich jetzt richtig Fischmachen lernen, jedes in Portsmouth verbrachte Wochenende damit beginnen. Das trifft sich gut, da ich auf der Suche nach neuen Rezepten war. Ente habe ich wie geplant erfolgreich probiert und auch die letzten Probleme des Brotbackens gelöst. Einmal habe ich auch Banizza allein probiert, was ich das letzte Mal noch zusammen mit Monika im Herbst gemacht hatte. Irgendwas hat gefehlt.

Letztes Abendmahl
Abends schließlich bin ich nach Southampton gefahren, zur Abschiedsfeier einer sehr netten italienischen Kollegin. Das war im kleinen Kreise des informellen internationalen Mittagstischs im Büro, wo sich diverse Immigranten zusammenfinden, weil man sich irgendwie näher ist als den Einheimischen. Dementsprechend war das ein Gelegenheit, einige der wenigen persönlichen Kontakte potenziell auszubauen. Den positiven Einfluss dessen habe ich gut wahrgenommen, auch wenn der Weggang der ob ihres unzerstörbaren Lächelns allseits beliebten Silvia ein dementsprechender Verlust ist.


Beim Abschiedsessen für die selig lächelnde Silvia in der Mitte. Man beachte meine Fliege und weiße Blume in der Jackettasche, zu Recht strahlt und funkelt es um mich.

Am nächsten Morgen haben die Muskeln erst richtig weh getan. Praktischerweise konnte ich ihnen etwas Auslauf geben, denn ich habe mich Mathieu Richtung Winchester angeschlossen, der zwei frisch immigrierte Freunde aus Southampton mitnahm, ein spanisch-französisches Pärchen. In Winchester war ich im Juli gewesen, aber diesmal schien es um einiges belebter zu sein. Das lag neben der Gesellschaft auch am hervorragenden Wetter, das im Januar die Außenplätze der Cafés füllte, auch mit uns. Nächstes Wochenende wollen wir gleich weiter fahren, zu einer bekannten Felsformation nahe Brighton.
Die Wochenenden vor Ort haben auch Zeit zum Lesen und Üben erlaubt. Das Buch Die Kunst kein Egoist zu sein, das ich zu Weihnachten bekommen hatte, habe ich fast geschafft. Lange wird es aber nicht mehr so ruhig bleiben. Mitte Februar gehe ich in Birmingham mit Kalina auf einen Maskenball. Am ersten Märzwochenende werde ich endlich wieder mit wunderbare, wunderschöne Ania wieder, die Zierde Rostocks, und anschließend meine wunderbare, wunderschöne  Kasia, die Zierde meiner Lodzer Zeit, die ja seit kurzem leider Zierde die von Celle geworden ist. Später im März besucht mich Papa, Ostern will ich selbst wegfahren, vermutlich Richtung York. Und dann ist Frühling und mich wird vermutlich wenig zu Hause halten.

Oben mit und oben ohne
Zum Schluss ein kleiner Eindruck vom Ergebnis eines gemeinsamen Neujahrsvorsatzes mit Friedemann, sowie vom Beginn meiner privaten Hutsammlung.

Der Dreispitz stammt vom Weihnachtsmarkt in Frankfurt/Oder und ist nach Vergrößerung endlich angekommen!
Diesen Halbzylinder habe ich auf dem Weihnachtsmarkt in Portsmouth erstanden. Ich hätte mir lieber einen richtigen Zylinder kaufen sollen.



Während Friedemanns Besuch im November hatten wir festgelegt: zu Neujahr Haare ab. Im Gegensatz zu ihm fehlt mir aber die Zeit, auch den Rest abzurasieren.

Donnerstag, 10. Januar 2013

Uneinsame Insel

Die Zeit steht im Zeichen einer erneuten Suche nach einem Sozialleben. Samstag abend bin ich wie geplant zur Isle of Wight übergesetzt. Das ging darauf zurück, dass mich kurz vor Weihnachten unabhängig voneinander sowohl meine ehemalige Gastgeberin dort wie auch ihr Mitbewohner ohne besonderen Grund angerufen hatten, was ich sehr geschätzt hatte und wir vereinbarten hatten, uns mal wieder zu treffen. Das war auch gut getroffen, da in der ersten Woche zurück wieder das Gefühl von Leere ohne Menschen zurück kam. Ich kam dann auch zu einem großen Abendessen von und mit zwei Französinnen und dazu dem deutschen Mitbewohner.

Sonntag bin ich nach dem Frühstück allein zur Burg Carrisbrooke gefahren. Die liegt im im Zentrum der Insel, nah der Hauptstadt Newport, und war so etwas wie das militärische Hauptquartier in Elisabethanischen Zeiten. Sie ist an sich nichts außergewöhnliches, abgesehen von der Rolle als Gefängnis für Karl I vor seiner Hinrichtung nach dem Bürgerkrieg, und einer netten Vorführung, wie ein Esel den Brunnenzug bedient, und einer Gruppe russischer Mädchen. Aber sie liegt doch recht hübsch auf einem Hügel mit schöner Aussicht in alle Richtungen. Nur war an diesem Tag starker Nebel, was die Schiffe in der Meerenge mit dumpfem Tuten honorierten.

Dienstag ging es mit einem Bekannten in den Kinoclub. Diese kleine Privatinitiative war mir von Anfang an bekannt, aber ich hatte immer nach Aktivitäten „mit Leuten“ gesucht, anstatt still Filme zu sehen. Zu meiner Überraschung waren da aber auch Menschen, aus der Türkei, Italien und Bulgarien, die auch alle sehr zugänglich und engagiert waren, was ich ja immer schätze. Darum gehe ich mit Sicherheit zur nächsten Vorstellung, dann wird nämlich der polnische Film In Darkness im Original gezeigt. Am Mittwoch ging dann sowohl der Chor als auch der wichtigste wöchentliche Salsa-Abend wieder los. Im übrigen macht mir Poulenc's Gloria doch langsam Spaß und außerdem proben wir auch noch Gabriel Faure's Cantique de Jean Racine sowie sein berühmtes Pavane. Zuguterletzt hatte ich nicht gewusst, dass sich eine kleine Gruppe um den Dirigenten danach jeweils in einer der besten Kneipen der Stadt trifft, was ich gerne jede Woche zwischen Chor und Tanzen machen werde. Langsam gehe ich wieder dorthin, von wo ich eigentlich weg wollte: soviel zu tun und so wenig Zeit, wenn man dazwischen auch noch schlafen will; irgendwann werden die Hobbies eher zu Pflichten und aus Spass wird Stress. Aber ich war vielleicht noch nie so voller Ideen und Begeisterung und vielleicht auch nie so bewusst einsam; es ist mir fast unmöglich etwas auszulassen.



Auf der Arbeit schließlich ist es überraschend ruhig, wohl, weil für die kommende Veröffentlichung weniger Gesamtarbeit anstand, und meine Chefin gut geplant hatte. Meine Aufgabe bestand aus zwei der Texte der Publikation. Daneben beschäftigte uns vor allem die Festtagsschokolade, die Kollegen ins Büro abschieben.

Samstag, 5. Januar 2013

Der Rückflug war doch anstrengend: am Neujahrstag bin ich um sechs aufgestanden und kurz vor zehn Uhr abends zu Hause gewesen. Gut also, dass die zwei Wochen in Deutschland wirkliche Urlaubsatmosphäre und ganz viel Schlaf gebracht haben. Ich habe sogar wieder ein Gefühl von einem zu Hause bekommen, inklusive der damit verbundenen Erinnerung, das mir so etwas fehlt. Daher vielen Dank für die Gastfreundschaft auf allen Stationen, auf die ich mich nicht von ungefähr schon in der Auswahl meines Gepäcks verlassen hatte.
Ich hoffe, niemand ist verstimmt wenn ich sage, dass Rostock als letzter Wohnort vor England die meisten positiven Gefühle in mir wachgerufen hat. Das war das so bei jeder Rückkehr in alte Wohnorte merkwürdige, exotische Gefühl von wieder aufscheinender Vertrautheit und gerade nicht mehr passenden Alltagsbahnen. Stundenlang bin ich 'die alten Orte' abgefahren, bei schönster Wintersonne mit der Fähre über den Stadthafen gesetzt und nachdem ich zuerst gefürchtet hatte, dass die Orte ohne die Freunde vielleicht leer wirken, habe ich sogar einige Bekannte wiedergetroffen. Mit einer gern gesehenen Redakteurin des Lokalradios zum Beispiel besprach ich das Kulturangebot, dass im Vergleich zu Portsmouth sehr viel reicher und einfacher erreichbar schien. Konzerte, Konzerte, Theater Theater Theater – und sogar eine Salsaparty. Binnen eines Tages fand ich das in Rostock bestimmende Gefühl wieder, ich kann alles (außer eine Arbeit finden), ich kann mir ganz allein ein interessantes Leben bauen.
Da dann auch Friedemann dazu kam, habe ich auch einige Fotos. Leider keine von der Silvesternacht, in der wir entgegen ursprünglicher Pläne an den Strand in Warnemünde gefahren sind. Das war mehr eine Verlegenheitslösung gewesen, aber unsere niedrigen Erwartungen wurden positiv überrascht. Es war nicht nur trocken, sondern auch die richtige Anzahl Menschen da, nämlich viele, aber gerade gut verteilt an diesem schönen, breiten Strand, von dem ich in Portsmouth nur träumen kann. Und so eine Menge von Feuerwerk habe ich lange nicht gesehen, in Warnemünde und noch weit die Küster hinunter sichtbar, deren Spiegelung das Wasser färbte, unterstützt von den bunt beleuchteten Schiffen.

So bin ich denn müde aber voller Zuversicht nach Portsmouth zurückgekommen, wo es die letzten zwei Wochen durchgehend geregnet haben soll. Dafür konnte ich abends unter den Sternen am Meer nach Hause laufen, mit der aufgefrischten Erinnerung an den Tatendrang, mit dem ich im Juni hier angekommen war. Dazu gehört zuvorderst ein erneuter Anlauf zu einem Sozialleben, weshalb ich am Sonntag meine Gastgeberin vom 15.9. auf der Isle of Wight sowie deren deutschen Mitbewohner besuche, mit dem ich am 23.9. zur Abtei Netley geradelt war. Und dann will ich einige in der Pause erhaltene Inspirationen vertiefen: in die Oper gehen, Ente braten und Philosophie lesen.
Die Arbeit war in der ersten Halbwoche ruhig, denn meine Chefin kommt erst Montag zurück. Für die Veröffentlichung Ende Januar hat sie uns detaillierte Anweisungen hinterlassen, die ich vermutlich doch wieder falsch verstehe.


Die bald verschrottete Georg Büchner morgens im Stadthafen.



Und einige Tage später mit Friedemann an gleicher Stelle.





Das Blumenbild war Kasias Abschiedsgeschenk, als ich 2010 Polen verließ. Nach zwei Jahren Zwischenlagerung in Rostock habe ich es im Zuge der Initiative Weniger Spartanisch leben in meine jetzige Wohnstätte geholt.