Dienstag, 23. Juni 2020

Luft holen, abwarten

Etwa ab Woche 12 wurde es irgendwie besser. Einfach so, vermutlich waren einige Sachen einfach ausgewachsen. Wir wagten eine Weile gar nicht daran zu glauben. Aber besonders ich war irgendwann der ständigen Angst auch einfach leid. Plötzlich jedenfalls ist abends einschlafen nicht mehr so ein Drama.. Tags schlief Otto kurz aber regelmäßig und manchmal wie durch ein Wunder auch einfach in seinem Körbchen ein statt nur auf Ellies kaputter Schulter (beide Hände sind aber weiterhin kaputt). Der gefürchtete Stuhlgang geht zwar selten aber verlässlich und alsbald ohne übergroße Anstrengungen und Tränen. Und man bemerkte immer mehr neue Fähigkeiten, teilweise schien es über Nacht. Erst verfolgte er Dinge mit den Augen, dann schien es fast als versuchte er in die allgemeine Richtung zu greifen, dann machte er das sogar gezielt. Und vor allen Dingen kann er endlich einfach mal wo liegen und seinen eigenen Gedanken nachhängen. Das heißt, wir haben mal eine Minute in die Küche zu flitzen, aber aufzuheben etc.
Und ich gebe Ellie gegenüber zu: der Schlaf war wirklich die Wurzel allen Übels. Wir haben fast ein anderes Baby. Das lacht und sich freut uns zu sehen. Seine Lieblingsbeschäftigung momentan ist es, auf den Knien des einen mit dem anderen Es fahren die Damen zu tanzen.

Wir wagen, vorsichtig, etwa in die Zukunft zu gucken. Machen Pläne, was wir mit Otto machen wollen. Können Treffen mit Freunden organisieren. Kochen. Backen. Schreiben. Familie wieder anrufen.An

Am 20. Juni hatten wir uns Putzkräfte bestellt um das Haus wieder bewohnbar zu machen. Dazu musstne wir das Haus einige Stunden verlassen. Wie letztens gesagt versuchen wir uns an immer größeren Ausflügen. Diesmal sind wir in den Königin-Elisabeth-Landschaftspark gefahren. Das sind einige buchenbedeckte Hügel in den South Downs, ganz zentral zwischen meinen üblichen Ausflugsorten. Außerdem einfach zu erreichen, zwanzig Minuten Fahrt direkt an der Autobahn nach London. Erst schien es ins Wasser zu fallen, dann schienen die Wege für Kinderwagen völlig ungeeignet, aber dann klarte es auf und wir fanden uns im Picknickbereich wieder und Otto schlief auf einmal zweieinhalb Stunden lang - statt der üblichen 30 Minuten. Das erste Mal seit dem März waren wir mal so richtig draußen und merkten wieviel Wachstum und Blühte an uns vorbeigegangen waren. Es war ein richtigen Aufatmen unter der großen Laubwand zu laufen.


Ein Zeichen, wie lange ich nicht mehr draussen war, wie mich diese Wand aus Buchenlaub beeindruckte.



Am Tag drauf hatte ich meinen ersten Vatertag. Der hat in England ein anderes Datum als in Deutschland. Ellie hatte uns allen T-Shirts mit Papa-, Mutti- und Babyente bestellt. Im Schrank wartet auch ein Entenregenmantel auf Otto. Aber erst ab 18 Monaten.

Letztens konnte ich zum ersten Mal Backen. Hier trifft Otto seine allererste Keksdose. Aber noch ahnt er nichts vom Zauber des deutschen Advents den wir für ihn planen.

Samstag, 20. Juni 2020

Der Schlafdämon

Nachfolgend steht ein Text, den ich über mehrere Wochen geschrieben aber nie ganz fertig bekommen habe. Es geht um die Wochen neun bis zehn, die für uns härtesten gewesen waren. Bisher. Inzwischen scheint es besser zu werden und ich bin mir einiger der beschriebenen Dinge nicht mehr so sicher. Aber aus Zeitmangel, und um die Zeit zu dokumentieren, lasse ich ihn erstmal so stehen.

Elternsein war immer anstrengend, aber die letzten paar Wochen waren so hart, dass ich jeden Kontakt mit Familien oder Freunden aufgeben musste. Erst jetzt spüre ich hoffentlich wieder Grund unter den Füßen. Leider erinnere ich mich nichtmal genau welche Probleme wir hatten. So sehr haben Schlafmangel und Stress mir zugesetzt. Das letzte große Thema war der Schlafdämon. Ellie hat sich große Sorgen gemacht, dass Otto tagsüber nicht genug schläft. Und während er nachts seit einigen Wochen gut ruht, schien das erste Einschlafen immer schwieriger zu werden. Ellie verbrachte ganze Tage damit ihn zu wiegen; ich ganze Abende ihn in sein Bettchen zu bekommen. Je müder er war, desto schwieriger. Verbissen wehrt er sich gegen das Einschlafen; windete sich in unseren Armen wie vor Schmerzen, jeden Tag länger. Es schien als spränge ihn ein kleiner Dämon an, sobald das Köpfchen sich neigte. Tagsüber musste ich Ellie Kämpfe ignorieren ohne zu helfen weil ich ja arbeiten musste. Nach der Arbeit blieb nicht viel Zeit, ehe ich ihn Ewigkeiten auf der Schulter wiegen musste, damit er vielleicht einschlief - und dann hatten wir eigentlich nur Schiss, ob er nicht irgendwann aufwacht und den Rest der Nacht nicht wieder einschläft. 

Dazu kam, dass sich Ellie die Hand verletzte und Otto eigentlich nicht mehr aufheben sollte. Was sie eigentlich den ganzen Tag über macht. Scheinbar ist diese Verletzung typisch für Mütter, lässt sich nur durch viele Wochen Ruhe beheben, die wir nicht haben. Das hieß, eigentlich hätte nur noch ich mich kümmern können und ich muss arbeiten. Zu dem Zeitpunkt spürte ich auch so schon, dass mein Ischias durch das Heben und Tragen und die fehlende Zeit für Übungen überlastet wurde. Inzwischen gibt auch Ellies andere Hand auf. Eigentlich sollten wir uns beide schonen. Wir haben aber keine andere Wahl als kaputte Gelenke weiter zu benutzen und zu hoffen das nichts chronisches draus wird

Dazu kam die langsame Erkenntnis, dass, anders als in den ersten Wochen, keine Zeit mehr für irgendetwas außer Kindspflege und Haushalt blieb. Eigentlich nicht mal für den Haushalt -  seit März wurde hier nicht mehr gesaugt. Einfachste Sachen waren nicht mehr möglich, nichtmal ein Telefonat mit einer Beraterin, weil Otto gleich morgens so laut brüllte. Das waren die schwerste Tage, als man wirklich das Gefühl hatte, nichts geht mehr, und wir gehen kaputt bevor es besser wird. In der Zeit gab ich auch sämtliche Versuche auf nach Hause zu telefonieren. Das tut mir richtig weh. Denn der Kontakt zu Familie war meine Mindestbedingung an die Kompromisse der Elternschaft. Verreisen ist natürlich nur noch zusammen möglich und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich unter diesen Umständen noch regelmäßig mit genug Zeit nach Deutschland kommen soll. Die meisten Sachen, auf die man sich freut, wie z.B. Otto die Natur und die Welt zu zeigen, sind alle Jahre hin.

Dazu kam, dass durch meine Arbeit alle Last auf Ellie ruhte. Wir stehen etwa halb acht auf; ich bespaße Otto damit Ellie hastig frühstücken kann, dann tauschen wir und ab da muss ich arbeiten und sie irgendwie Otto zum Schlafen bringen. Das schlimmste ist, sie an schwierigen Tagen alleine sitzen zu lassen; an ihr vorbei zum Rechner zu laufen, Musik aufzudrehen, um sich zu konzentrieren.
Ca. halb sechs abends mache ich Schluss, übernehme Otto; ursprünglich um 20 und inzwischen 18 Uhr ist er idealerweise im Bett. Dazu tanze ich ihn auf meiner Schulter müde, was eine gute Stunde dauern kann. Dann lege ich mich dazu und schlafe etwass während Ellie sich unten um den Haushalt kümmert. Dann tauschen wir und ich habe etwa Zeit für mich. Joggen gehe ich dadurch nicht mehr, mit Friedemann online spielen geht nicht mehr - nichtmal die Videogespräche beim Arbeiten machte ich mehr, einfach weil ich ehrlich gesagt keine Lust und Nerven hatte die Situation zu erklären.

Dazu kam zuguterletzt, dass man keine vernünftigen Vergleichsinformationen kriegt. Wenn man mal rumfragt, bei Bekannten, Familie oder den anderen Eltern aus dem Vorbereitungskurs, kriegt man den Eindruck, dass niemand sonst irgendwelche Probleme hat. Und das Gesundheitswesen lässt sich sowieso auf keine klaren Antworten ein. Das kann natürlich nicht stimmen, auch wenn man in den schwersten Momenten fatalistisch genug ist das glauben zu wollen. Viele Eltern müssen die ersten Monate vergessen haben. Verstehe ich; ich selbst erinnere mich kaum, was gestern passiert oder nicht passiert ist. Aber eine große Rolle spielt auch einfach Ideologie. Was wird den armen Frauen vorgemacht was man darf und nicht darf. Was da für Schuldgefühle entstehen, für Dinge über die Menschen gar keine Kontrolle haben. Insbesondere das Bruststillen hat eine ganze Lobby hinter sich. Viele Leute schämen sich ganz offensichtlich Problem zuzugeben. Erst wenn man unter vier Augen nachhakt, kommt raus, was woanders auch nicht klappt. Und ich bin mir sicher, einige Leute lügen auch einfach. Dann denkt man, nur man selbst kommt nicht klar und alles wirkt noch schlimmer.

Zuletzt ist das durchaus auch eine Belastung für die Beziehung, wenn Schlaf und Energie allzeit knapp sind. Dazu spürt man inzwischen auch die soziale Isolierung der letzten Monate. Ellies Mutter war da, genauso Vater mit Frau, aber nur für je ein paar Stunden. Ein paarmal konnten wir Treffen mit Freunden im Park organisieren. Das tut uns gut und auch Otto; er ist ein soziales Baby. Seine Stimme entwickelt sich; er übt mit Freude. Jede neue Note benutzt er bevorzugt lauteren Schreien. Aber auch um Gespräche mit uns zu führen; er findet es super wenn wir ihn nachahmen und er kann auch uns erkennbar imitieren. Seit kurzem erkennt er sich auch im Spiegel.

Unsere Namen für ihn haben sich folgendermaßen weiter entwickelt:
Robotto - Ottobot - Ottbot - Bot - Botling (-ling ist die englische Verniedlichungsform, wie im Deutschen -lein). Außerdem: Wigglebot (to wiggle - strampeln). Aber meisten einfach Bot bzw. Botling. Sein Haar wird heller, sein Gewicht bald sogar für mich untragbar. Ich müsste inzwischen eigentlich einen Riesenbizeps haben.

Da ich inzwischen kaum noch das Haus verlasse, geben wir uns beide ganz stark Fantasiereisen hin. Torun, Lodz, Annecy und für uns zusammen St Malo, auf Videos und Karten. Oft malen wir uns einen Urlaub mit Otto in der Bretagne aus, was wir ihm zeigen und beibringen, wobei das größtenteils auf Crepes und diverse Kostüme hinausläuft. Vergangene Stationen spielen in Gedanken weiter eine große Rolle. Letztens habe ich mein mein altes, auf der Farm begonnenes Tagebuch gerettet. Für den Fall, dass die Seite irgendwann verschwinden sollte.

An den Wochenenden machen wir inzwischen immer wieder Ausfluege, jedes Mal etwas weiter weg.
Am 13. Juni sind wir bei Haus Stansted spazieren gegangen. Das war das erste Mal, dass Otto Portsmouth verlassen hat, und das erste Mal für uns seit seiner Geburt.