Dienstag, 26. Oktober 2010

24.10.2010 – Berichte & Meinungen

1. Computer
Nach einer Woche Suchen kann ich endlich wieder zu Hause Zeit mit einem Computer verlieren. Eigentlich habe ich gemerkt, dass ich gar keinen brauche. An der Uni sind genug, und zu Hause lerne ich besser ohne.
Jetzt versuche ich die verlorene Lehrbuchlesezeit nachzuholen. An der Uni habe ich tatsächlich nur vier Kurs, die aber erstaunlich viel Arbeit erfordern. Gott sei Dank habe ich den Sommerkurs besucht. Ohne diese Extraübungszeit wäre ich hoffungslos verloren in Mathelehrbüchern und Vorlesungen. Gelegentlich wünschte ich, schon im September weniger Tourist und mehr Bibliotheksbesucher gewesen zu sein. Aber dann bin ich froh, damals York und Fountains Abbey und die Farm besucht zu haben, denn jetzt ist keine Zeit mehr für irgendwelche Ausflüge und Privatbildungspausen mit vernünftiger Vorbereitung.

2. Studium
Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass man hier an der Uni sehr wenige Kurse hat. Ich habe grade mal fuenf dieses Semester und nur an maximal vier Tagen pro Woche bin ich zwingend an der Uni. Es gibt aber trotzdem mehr als genug Arbeit, man studiert mehr selbstständig und so komme ich meist sieben Tage die Woche gegen neun abends aus der Bibliothek, die bis Mitternacht auf hat.

3.
In erwähnter Woche durfte ich beide Einkaufsparks Yorks kennen lernen. Nach dem Kauf des Laptops gab ich noch etwas mehr Geld im Supermarkt nebenan aus. Jetzt haben wir mehrere Kochtöpfe im Haus und ich Ordner für die Semesteranfangspapierflut. Dabei lernte ich einen polnischen Mitarbeiter kennen, der meine Meinung über die hiesige Polonia entschieden verbesserte. Er gab mir eine Führung zu den besten Produkten, inklusive Empfehlungen zur Konkurrenz, und lieferte mich dann bei der strahlenden polnischen Kassierein ab.

4. Buecher
York hat eine Unzahl sehr guter Gebrauchtbuchläden. Außerdem sehr viele sog. Wohlfahrtsläden, wo Erlös aus gespendeten Gütern an sehr alte, sehr junge, sehr kranke etc. Menschen als auch Tiere geht. Eine Gottesgabe für Studenten. Ich habe mir für den nahenden Winter eine Breschnew-Gedächtnismütze gekauft, die so billig war, dass ich freiwillig mehr bezahlt habe.

5. Salsa
Mittwochs besuche ich einen Salsakurs an der Uni. Nicht sehr anspruchsvoll, aber man lernt viele Leute kennen, die auch verzweifelt nach genug Raum zum Tanzen suchen. Sehr gut zur Sprachübung, vor allem seit man mich als überqualifiziert von den Englischkursen abgewiesen hat. Bei der wöchentlichen Salsaparty am Donnerstag habe ich dann eine erzbulgarische Studentin kennen gelernt.

6. Bildung
Eine der letzten historischen Bildungsaddressen in der Stadt ist die sog. Merchant Adventurers Hall. Das ist die Versammlungshalle der Woll- und Tuchfernhändler. Ein Meisterstück mittelalterlicher Holzdächer. Eine zweischiffige Halle, weil kein Baumstamm weit genug für die gewünschte Dachgröße war. 1357 von einer ursprünglich religiösen Vereinigung gebaut, die sich während der Reformation in eine Handelsgilde umbildete, um dem Einzug der Besitzes durch die Krone zu entgehen. Wurde später zur mächtigsten Organisation der Stadt, bis ihre Monopole widerrufen wurde und der Fluss zu klein wurde für die immer größer werdenen Schiffe. York wurde nämlich ursprünglich so reich, weil es anfangs eine für Seefahrer anlaufbare Hafenstadt war. Das ist lange vorbei, aber die Gilde existiert immer noch und hält seit 700 Jahren ihre Halle.

7. Sonntag
Wieder Gottesdienst im Münster. Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied zu Polen: zur Kommunion steht diszipliniert eine Reihe nach der anderen auf, wenn die Schlange zum Priester kurz genug ist. Kein zeitgleiches Vorwärtsstürmen der gesamten Gemeinde. Dabei scheint es mir oft katholischer als bei den Katholike. Nicht erst seit gestern verhandelt man ja mit Rom über eine Rückkehr. Das wird erleichtert durch die große Autonomie, die hier jede Gemeinde hat. Anhänger der sog. 'Niederkirche' begleiten die Messe mit der Gitarre, der Pfarrer der 'Hochkirche' nebenan schwenkt den Weihrauch des selbst dem Papst die Luft wegbleibt. Nach viel Ärger um weibliche Priester hat sich jetzt laut Zeitung die erste traditionelle Gemeinde zur Heimkehr nach Rom entschlossen.

8. Tee
Ich dagegen trank nach der Messer noch einen Tee in einem zauberhaften Ort mit zwei Meerschweinchen in einem Garten direkt an der Stadtmauer, auf dessen grünen Rasen das rote Laub der Bäume fällt.

9. Äpfel
Emilie hat mir ein Rezept für gedünste Äpfel gezeigt. Zusammen ernten wir den Baum im Garten bevor alles erfriert.

10. Mein ganzes Viertel riecht zur Zeit nach heißer Schokolade.

11.
Von meiner Haustür sehe ich direkt auf den Hauptturm des Münsters, mit den zwei kleineren Westtürmen dahinter. Morgens weiß vor z.Z. meist blauem Himmel, abends angestrahlt in der Dunkelheit.

12. Post
Vielen Dank für Eure Briefe. Leider kann ich über das Tagebuch hinaus nicht individuell antworten.

Montag, 18. Oktober 2010

18.10.2010 – UniAnfang

Uni
Ab Montag, den 11.10., läuft offiziell das Semester. Die erste Woche jedoch ist für fast alle Studiengänge Einführung. Das wird hier mit relativ ungezwungenen Empfängen erledigt, wo massiv Wein auf den Tisch kommt. Meine war Donnerstag Abend. Ich bin mit einem Zyprioten den Wein angegangen, dann tauchte meine neue Mitbewohnerin Emilie auf der Suche nach einer eigenen Party auf und blieb, später traf ich die viele Bekannte in der Stadt beim Salsa wieder. Tanzen ging aber schlecht wegen Platzmangel. Uni und Stadt sind ueberlaufen von Studenten, die zum Semester zurueck sind. Und Salsa am Donnerstag war vor allem ein Beispiel fuer englische Maenner. Tagsueber die besten Gentlemen, nach ein paar Bier abends haben sie die Haende ueberall an einem Maedchen bevor sie sich vorstellen.

Unser Studiengang wird von bemerkenswert wenigen Leuten geleitet, die sich weit besser verstehen und alles effektiver organisieren als in Magdeburg, und das trotz derselben Koordinationsprobleme eines interdisziplinären Studiengangs. Das sind größtenteils zweieinhalb Professoren und eine Sekretärin, die auch keine Scheu haben mit uns was zu trinken.

Heute, 18.10., gehen die ersten Vorlesungen los. Wie nachfolgend sichtbar haben wir nominell wenige Vorlesungen. Aber dazu kommen noch Uebungen und wie ich das kenne wir das wieder alles viel zu viel.

Für Interessierte meine Kurse:
Herbsttrimester: theoretische Mikroökonomie, Theorien & Praktiken der Entwicklungsverwaltung, Quantitative Analytik 1, Recherchetraining

Frühlingstrimester: Entwicklungsökonomie, Die Politik, Philosophie und Wirtschaft gesellschaftlicher Wahl, Internationale Makroökonomie, Quantitative Analytik 2, Recherchetraining, Vorbereitung der Abschlussarbeit

Sommertrimester: Abschlussarbeit

York
Am Wochenende, 16./17.10., also vor den ersten wirklichen Vorlesungen, habe ich Samstag zum ersten Mal eine Fuehrung durch den Muenster mitgemacht und bin danach endlich mal auf den Turm gestiegen. Sonntag morgen kam ich zurueck zur Messe, wohl die einzige, die im Hauptschiff gehalten wird statt nur im Chor. Im Vergleich zu Polen ist die Gemeinde natuerlich kleiner, aber sozial besser gestellt, aelter und wirklich glaeubig. Beim Singen versteckt sich niemand hinter der Stimme des andern, und beim allgemeinen Haendeschuetteln sieht man keine peinlich gezwungenen Gesichter. Anschliessend ging ich ins sog. Haus des Schatzmeisters, eine Besitzung des National Trust gleich neben dem Muenster. Urspruenglich Heim des Muensterschatzmeister hat ein Fabrikant dort um die Jahrhundertwende in 13 Raeumen seine Sammlung von Inneneinrichtung aus 400 Jahren aufgebaut. Jetzt sind nur noch wenige wichtige Orte zur Stadtgeschichte uebrig, aber jetzt geht auch das Semester los und ich weiss nicht, wieviel ich noch schaffe.

Zu Hause
Nach der Auskurierung der letzten Erkältung bin ich gleich wieder krank geworden. Irgendwas neues, was die halbe Uni niederstreckt. Und das obwohl ich mich gesünder ernähre sowie aufgrund fehlenden Internets zu Hause früher und länger schlafe als in den letzten fünf Jahren. Das beste: mein Laptop ist puenktlich zum allerersten Unitag kaputt gegangen und ich brauche einen neuen. Das kostet wohl weniger als halb soviel wie der letzte und zum Glueck sind an der Uni sehr viele Rechner. Aber vor allem kostet es unvorstellbar viel und unvorstellbar knappe Zeit. Nach gerade mal zwei Vorlesungen am ersten Tag sitze ich abends um sieben im Computerzentrum, renne seit 8 Uhr morgens den Aufgaben hinterher, dabei ist die Liste nur immer laenger geworden. Und ein Buch habe ich heute nichtmal angefasst.

Nur zu Hause bleibt ohne Rechner viel Zeit zum Lesen. Ich habe endlich Bruno Schulzes ‚Zimtlaeden‘ (Abschiedsgeschenk meiner Freundin Kasi aus Polen), abgeschlossen, und lese nun abends Jeromes ‚Drei Maenner in einem Boot‘. Die Gebrauchtwarenlaeden hier sind eine Gottesgabe fuer Buecher. Aber mit Unianfang hat sich das private Lesen wohl einstweilig erledigt.

Auch zum Backen bin ich gekommen. Leider haben sich die Damenplaetzchen in fuenf Minuten in eine Pfuetze auf dem Blech verwandelt.

Montag, 11. Oktober 2010

11.10.2010 – Schoener Wohnen, besser Lernen

Zu Haus
Freitag, den 01.10., also am Tag vor der Abreise nach Manchester, ging der Intensivkurs zu Ende. Angeblich haben alle bestanden, sogar Statistik. Ich habe ein weiteres Abschlusszertifikat, was mir nun die Einschreibung in die Entwicklungsökonomie erlaubt. Nachmittags brachte ich meine Sachen in die neue Wohnung. Die Mitbewohnerin aus Sunderland musste leider kurzfristig ausziehen, weil ihr Studienkredit doch nicht in nötiger Höhe genehmigt worden war. Dafür habe ich jetzt an der Uni zufällig Ersatz gefunden und die 29jährige Französin Emilie auf einem Jahr Austausch an unsere Vermieter vermittelt. Ist auch noetig, denn die beiden anderen Mitbewohner Louis und Ella sind 19! Aber bemerkenswert angenehmer Haushalt. Wir haben uns ohne Probleme auf mehr Sauberkeit in Küche und Müllbeseitigung geeinigt. Die Besitzer kommen ab und zu vorbei und basteln am Haus rum. Zur Zeit wird eine Terasse im Garten gebaut. Dessen Aepfel und Birnen duerfen wir auch verbrauchen, und sie wollen mir gruene Bohnen bringen. Mein Zimmer ist eingerichtet, Einkäufe gemacht, u.a. fürs erste Plätzchenbacken.

Ausser Haus
Nach der Rückkehr aus Newcastle schließe ich mich dem allgemeinen Auffrischungskurs Mathe/Statistik an. Viele Einführungsveranstaltungen für neue Studenten sind im Gang. Überall verwirrte Neuankömmlinge.
Am Wochenende habe ich weiter die Geschichte Yorks abgedeckt. Von der neuen Wohnung sind es ganze 5 Minuten Radweg ins Zentrum. Samstag im Wikingermuseum, mit einer Gondelfahrt durch ein Wikingerdorf zur Zeit, als York das dänische Jorvik war. Danach das restaurierten Haus eines mittelalterlichen Bürgermeisters sowie die zweite Hälfte der Ausgrabungen unter dem Münster. Sehr gutes Wetter, und nirgends schöner als auf den sonnigen Stufen des Münsters zu sitzen während jemand davor Klavier spielt. Touristenmassen in den Straßen der Altstadt. Innen jedoch erkannte eine deutsche Mitarbeiterin sofort meinen Akzent, da hatte ich genug für heute und bin nach Hause. Denn es stimmt, ich spreche zu wenig, und das auch noch schlecht.
Sonntag morgen orthodoxer Gottesdienst, dann Burgmuseum für die Stadthistorie während viktorianischer Zeit. Stellte sich raus, dass es bis auf den gemeinsamen Standort mit der ehemaligen Burg gar nichts zu tun hat. Auf die Frage, warum es dann Burgmuseum heißt: „God knows why“. Aber ein ganz toller Nachbau einer viktorianischen Stadtstrasse, mit Geschaeften zum Reingehn und Anfassen. Anschließend ein letztes Infoblatt im Münster abgearbeitet. Egal, wann man hingeht, es wird immer gesungen. Zum Abschluss etwas, was ich seit langer Zeit nicht mehr getan habe: nach einem Tag als Tourist in einem Café mit einem Sprachlehrbuch sitzen.

06.10.2010 – Gibside, Durham, York

Gibside
Die Kosten dieses ganzen Spaßes sowie nötige Statistikvorbildung vor Semesterbeginn treiben mich, an diesem Mittwoch nach Hause zu fahren. Davor will ich nach Gibside, wo ich damals alle zwei Wochen einen Tag gearbeitet habe. Die Busverbindung ist besser als früher, ich bin eine Stunde vor Toröffnung da. Aber meine Geschichte lässt mich schon früher rein, und das gratis. Insgesamt fünf Stunden laufe ich bei strahlender Sonne durch das riesige Gelände, ohne ein bekanntes Gesicht zu treffen. Die Allee Richtung Freiheitssäule, die Orangerie umgeben von neuen Anpflanzungen. Die große Halle, dann hoch zum Stall, wo inzwischen keine Freiwilligen mehr wohnen, die sind neben die Büros gezogen. Dafür eine Fotoausstellung der letztjährigen Freiwilligen, beide aus Deutschland, groß auf einem Plakat vertreten. Eine neue Ausstellung nebenan erklärt mir endlich mal alles über Gibside selbst. Dann laufe ich zum achteckigen Teich unter dem Banketthalle. Kaum Gäste an diesem Mittwoch. Durch den Wald weiter hoch zur Freiheitssäule selbst. Wieder runter, an einer Gruppe Freiwilliger mit Handmähern vorbei. Die essen Sandwiches im Gras – schon wieder Mittag. Die Kapelle. Zuletzt ein Blick in den Garten; Lichtjahre weiter als damals, als wir sie ersten Beete legten. Zuletzt ein Tee vor dem Café. Wieder scheint es so natürlich hier zu sein, ich muss mich nicht zwingen, zu gehen.
In Newcastle finde ich vor der Abfahrt endlich gutes Fish & Chips. Beweis: sowas soll nur an billigen Imbissen gekauft werden, und: die Pommes müssen halbweich und voll mit Essig sein. Nachdem auch das endlich wieder erlebt wurde, kann ich mich wieder vom Fastfood verabschieden.

Durham
Auf dem Weg von Newcastle nach York liegt Durham. Dort machte ich einige Stunden Aufenthalt, einige Stunden mehr für die Kathedrale, mit einem weiteren Infoblatt während vorne unter der Ostrosette die Abendmesse gesungen wurde.

05.10.2010 - Ground Zero

Aber der wirkliche Test kommt natürlich erst am Dienstag. Und in schwachen Momenten bin ich auf der Anfahrt wirklich nervös. Per Zug nach Seaham, am alten Haus der Polen vorbei zur Hauptstraße, zum Bus. Zehn Minuten die alte Strecke entlang, immer parallel zum Meer. Bis Easington. Nicht gleich runter zur Colliery. Erst der historische Ortsteil auf dem Berg, mit der Kirche und dem Herrenhaus. Die Infotafeln verstehe ich erst jetzt wirklich. Am wichtigsten: unten sehe ich das Meer. Die Hauptstraße hinunter. Alle Läden sind noch da. Ich kaufe irgendwas bei Co-op. Dann biege ich ab. Nicht weiter hinunter, nicht den Fußweg über den Hügel mit dem Minenfahrstuhl nehme ich wie damals meist. Sondern den Fahrweg, der von oben auf die Farm hinunterführt. Wie ich am ersten Tag hinein- und am letzten Tag hinausgefahren wurde, weg vom glitzernden Meer. Heute hängen graue Wolken darüber.
Im letzten Haus am Dorfrand wohnt noch immer der bewaffnete Fischer, die Reusen auf dem Hof verraten es. Dahinter geht der Fahrweg zur Farm los. Ich hatte mir immer vorgestellt wie ich den Weg wieder runterlaufen würde. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie sie erst nach und nach hinter dem Kamm auftauchen würde. Wie das sein würde. Sentimental, traurig, voll Pathos auf jeden Fall. Der Weg wurde bald nach meiner Abfahrt asphaltiert. Gerade als ich ihn betrete, kommt von hinten ein Auto, und vom Fahrersitz zwinkert mir Ron zu ohne anzuhalten. Unzeremoniel als käme ich gerade vom Englischkurs. Jetzt kann ich kaum aufhören zu kichern.

Die Farm
Der Weg führt einige hundert Meter durch die Felder. Biegung rechts, das Meer ist vollends zu sehen. Dann taucht hinter einem Busch tatsächlich die Farm auf. Erst die Ställe und dann das Haus. Oben ist ein neues Tor, mit der Aufschrift 'White Lea Farm'. Dort unten erst liegt sie, keine vierhundert Meter vor mir. Ron kümmert sich um die Hühner. Er wohnt jetzt hier samt Familie im Haus, der Trust ist inzwischen vornehmlich auf dem Besitzurkunde anwesend. Fensterläden neu getrichen, Zaun um den Vorgarten. Youth in Action sind lange weg. Ron ist nicht groß erstaunt mich zu sehen. War sich nur nicht sicher, ob ich das war. Ich fühle mich auch nicht anders, als wenn ich gerade rausgekommen wäre die Hühner zu füttern. Nach dem kurzen Gespräch kaum Aufgewühltheit. Es scheint ganz normal wieder hier zu sien. Schließlich ist auch hier alles wie ich es verlassen hatte. Hinter dem Stall liegen die Heuballen, das Feuer für alles Unerwünschte am alten Fleck, Ron hat nichts dagegen wenn ich durch die Farm laufe und über die Zäune steige wie früher.
Es folgen drei Stunden Laufen. Runter zur ersten Eisenbahnbrücke; die Mauern höher als damals; nicht, dass das jemanden an irgendwas hindern würde. In den Büschen hängen weiter zerfetzte Plastiktüten. Nur die Wiesen sind frei von Ragworse, sagt Ron, dank zwei Jahren guten alten Chemiesprühens. Ich laufe nach Norden Richtung Beacon Hill, einfach nur froh wieder hier zu sein. Bis auf den Moment, wo ich über Shippersea Bay auf einmal das dumpe Rollen der Brandung höre. Unten schlagen wie eh und je die Wellen über die Steine und Felsen.

Auf Beacon Hill ist tatsächlich die Mauer fertig, die der erste Working Holiday auf White Lea begonnen hatte. Keine Blumen mehr im Betonpfosten auf dem Gipfel. Das Blick über das Meer, von Sunderland im Norden über die Mole mit Leuchtturm in Seaham im Norden bis zum Hafen von Hartlepool am Ende des weiten Bogens im Süden. Frachtschiffe scheinen weit draußen still zu liegen.

In Hawthorn Dean sind die Treppenstufen noch frei, und die im Sturm weggespülte Brücke noch immer weg. Jetzt kommt die Sonne langsam durch die grauen Wolken und gibt den Wellenkämmen das Glitzern, das ich als letzten Eindruck von der Farm mitnahm. Unter dem Eisenbahnviadukt wieder hinauf auf den Küstenpfad, zurück nach Süden, unterhalb der Farm vorbei, bis zu den Stufen hinunter zum Meer, die ich die ersten drei Wochen über gangbar hatte machen sollte. Inzwischen von beiden Seiten wieder bewachsen, aber jemand hat tatsächlich ein Geländer bis zum Strand installiert. Dort rauschen die hohen grauen Wellen mit Wucht auf die Steine. Nur die letzte Schicht Minenabraum erreichen sie weiter nicht. Am Beginn nach Foxholes Dean kehre ich um, gehe fast bis zur Farm zurück, klettere auf den Hügel mit dem Minenschaft. Die Bänke dort sind inzwischen durch wohl weniger zerstörbare Betonklötze ersetzt. Hinunter zum Parkplatz und zur alten Bushaltestelle.

Peterlee
Schon ist der lange Tage fast wieder zu Ende, doch bevor es zurück nach Newcastle geht, will ich noch Peterlee sehen. Fast siebzehn Uhr. Das College ist leider schon zu, keine Chance noch einen Englischkurs zu erwischen. Auch die Läden auf der furchtbaren Einkaufsstraße sind dicht. Aber darüber ist ASDA. Keine Stunde in Peterlee ohne ASDA zu sehen. Auch des Hungers wegen. Und inzwischen gibt es sogar sowas wie ein Café für warmen Tee.

Eine Runde ums Zentrum; viel gab es schon damals nicht und so auch jetzt nicht wiederzusehen. Nur ist die Sonnen inzwischen allein am Himmel und ich will das Meer sehen; wohin gehe ich da: zu den Zeugen Jehovahs auf dem Hügel über der Stadt. Auf dem Friedhof nebenan setze ich mich doch für eine halbe Stunde und schaue aufs Wasser. Sechs große Frachter, zwei Fähren, liegen fast regungslos da. Ein drittes Mal am Meer, wieder an der anderen Küste als vorher.

Zuguterletzt erklingt hinter mir eine wohlbekannte Melodie. So gehe ich den Eiswagen jagen. Im verwinkelten Wohngebiet hinter mir trennt uns immer eine Ecke. Aber sein Glockenspiel verrät ihn. Und so sehe ich nach sechs Jahren zum ersten Mal den Eiswagen.

04.10.2010 - Newcastle

Aber Manchester war natürlich nur der Anfang der großen Erinnerungstour. Am wichtigsten war es, Montag früh nach Newcastle zu fahren. Immer hatte ich mir vorgestellt, wie das wohl werden wird, wie ich reagiere. Beim sonnigsten aller Tage schlief ich die Busfahrt aber fast durch. Jedoch wachte ich genau in dem Moment auf, als wir an Easington vorbeifuhren. Ich brauchte keine Sekunde, um zu sehen, wo wir waren. Die Mühle an der Autobahn, dahinter die Kirche, und dahinter das Meer das Meer und kein Ende. Frachter am Horizont. Es traf mich härter als gedacht. Dann Seaham. Die Route mir durch meinen ersten Fahrradausflug bis nach Sunderland wohl bekannt. Das Verkehrsterminal. Über die Wear. Penshaw am Horizont. Der Engel des Nordens. Gateshead. Über die Tyne. Die sieben Brücken. Die silberne Raupe der Konzerthalle Sage in der Sonne. Der Hauptbahnhof. Und dann steige ich aus.
Immer hatte ich mir vorgestellt, wie die Rückkehr wohl sein würde. Am wenigstens hatte ich erwartet, dass alles wie damals sein würde. Alle Läden, alle Kneipen am gleichen Ort, die gleiche Obdachlosenzeitung wird noch verkauft. Die alten Wege führen noch zu den gleichen Orten, zu Peter fährt sogar noch der alte Bus zur alten Haltestelle. Soviele Gedanken, wie das wohl sein würde, und jetzt scheint es so normal hier zu sein, ich fühle kaum mehr als eine solide Zufriedenheit.
Der Hauptbahnhof war wohl der symbolischste Ort, und dahin gehe ich als erstes, in die lichte Halle mit der Brücke aus dunkelblauem Gusseisen. Dann hoch zu Grey's Monument, zum Mittag Shepherd's Pie auf dem Grainger Market. Durch die einkaufenden Massen auf der Northumberland Street nach Norden; niemals ist mir aufgefallen, wie hässlich die Straße ist. Ein Tee an der Uni, eindeutig sind hier tausende Studenten mehr als damals. Zurück nach Süden, das Tyneside Cinema, weiter zum Fluss, über die Jahrtausendbrücke und auf die Aussichtsterasse der Baltic Galerie. Kaum Gedanken an ein tränenrühriges Wiedersehen. Eher lese ich mir routiniert die Infotafeln an der Burg durch, was ich damals nie gemacht hatte.

01.01.2010 – Das grosse Damals

Der leichtgläubige Leser dachte sicherlich, dass all die Zeit und all das Geld hier in meine Bildung investiert werden. Das ist natürlich falsch. Hier geht es nur um eins: mir ein Nostalgiereise ganz an den Anfang zu spendieren; dahin, wo alles begann. Fahrtroute: am 02.10. nach Manchester zu Joanna, am 04. nach Newcastle mit Übernachtung bei meinem alten Betreuer Peter, am 05. auf die Farm, am 06. mit Zwischenstopp in Durham zurück nach York.

02.10.2010 - Manchester
Am Samstagmorgen nach dem Ende des Kurses fuhr ich nach Manchester. Zwei Nächte blieb ich bei Joanna, der ersten Bekannten, die ich seinerzeit im Englischkurs kennengelernt hatte. Wir hatten über die Jahre zwar sporadischen Kontakt, aber wie halb erwartet war mein Eindruck jetzt ein solcher, dass ich ihn nicht wieder aufwerten werde. Manchester war etwas netter als in meiner Erinnerung, aber weiterhin nicht sehr spannend. Einige Male war ich schon da, habe davon aber scheinbar keinerlei Orientierung behalten. Kein Wunder, bin ich damals doch tatsächlich das ganze Jahre mit einem mickrigen Marco-Polo Reiseführer über die Insel gefahren.

03.10.2010 - Liverpool
Sonntag ein kleiner Ausflug nach Liverpool. Wie Manchester auf Industrie gebaut, plus Werften und Seehandel, aber keine der beiden becirct mich so wie z.B. Lodz. Jedoch schön zweimal in einer Woche am Meer zu stehen, und das an Ost- und Westküste. Und die Kathedral in Liverpool ist toll, das Bestuhlung fast nur im Chor so wie es früher gewesen sein muss, da merkt man erst, wie groß die Halle des Hauptschiffs eigentlich ist. Die Docks sind restauriert mit einem guten Stadtmuseum. Vorher waren wir noch im polnischen Gottesdienst. Irgendwie habe ich bisher kaum was von der berüchtigten Emigrantenarmee gesehen, und wenn, dann passte es eher in das zweifelhalte Bild, was man hier wie zu Hause von ihr hat.

Freitag, 1. Oktober 2010

01.10.2010 - Notizen vor dem Ernstfall

Kurze Nachrichten bevor ich morgen frueh abfahre.

Heute, Freitag, haben wir den Intensivkurs abgeschlossen. Wir hatten in der letzten Woche zwar noch Vorlesungen, aber keine Pruefungen mehr. Darum habe ich ob meiner Unfaehigkeit zuzuhoeren aufgehoert, hinzugehen, und lieber in der Bibliothek aus Buechern gelernt, abwechselnd ein Kapitel Wirtschaft und Russisch. Klappte sehr gut.

Wir haben den Kurs uebrigens alle irgendwie bestanden, sogar ich. Letzte Nacht haben sich alle zu einem Abschlussessen getroffen, inklusive zweier unserer Wirtschaftsprofessoren. Fuer einen war heute die letzte Vorlesung seiner Unikarriere. Wir sind noch in einen Pub und ich spaeter kurz Salsa tanzen gegangen.

Die Erkaeltung ist vorueber, etwas Schnupfen und Husten, aber meine Arbeitsfaehigkeit ist nicht mehr eingeschraenkt.

Heute habe ich mein Wohnheimzimmer ausgeraeumt und bringe alle Sachen in die neue Wohnung. Ich selbst uebernachte noch einmal im Heim. Samstag frueh fahre ich dann nach Manchester zu Joanna. Montag fahre ich von dort nach Newcastle. Uebernachtung bei meinem alten Tutor Peter. Dienstag Easington. Rueckkehr nach York Mittwoch oder Donnerstag. In der Zeit vermutlich ohne Internetzugang und Email.

Vorlesungen gehen erst ab 14.10. los. Bis dahin laeuft aber ein weiterer Vorbereitungskurs Mathe und Statistik fuer alle. Aufgrund meiner eklatanten Ergebnisse in Statistik werde ich mich nach meiner Rueckkehr dort anschliessen und soviel wie moeglich nachholen bevor das Semester losgeht.