Freitag, 28. Dezember 2018

Advent und Weihnachten

Dieses Jahr ist Weihnachten völlig an mir vorbeigegangen. Dabei ging es gut los: Mitte November hatte ich Zeit über Geschenke nachzudenken, hatte noch vor dem Advent alles organisiert und einmal gebacken. Aber danach schien ich niemals wieder Zeit und Muße zu haben. Das lag einmal an meiner Arbeit: man lässt mich endlich ernsthaft programmieren. Aber ich merke auch, dass ich nach so einem Tag ziemlich wuschig im Kopf bin und mich abends nicht mehr besinnen kann. Und meistens gab es dringende Sachen zu erledigen. Ein anderes Problem war die neue Katze, die am 17. Dezember ins Haus kam und sich bisher nicht besonders gut mit Buddha verträgt.


Weihnachtsstimmung im Büro: ich mache einen Spaziergang, um den Kopf zwischen vielem Programmieren wieder freizubekommen


Am 2. Dezember war das diessemestrige Chorkonzert, in einer Kirche in Gosport. Eine eklektische Sammlung von Lieder zum Thema "Abend", gratis, für einen wohltätigen Zweck der uns nie mitgeteilt wurde. Solche kleineren Veranstaltungen werden nicht so ernst genommen. Einige schöne Lieder von deutschen Komponisten wie Clara Schumann, Brahms, Bruch und Rheinberger waren darunter und das wunderschöne Soir sur la Pleine von Lili Boulanger, die ich bei der Gelegenheit zum ersten Mal gehört habe. Im neuen Jahr singen wir etwas herzhafteres, Haydn und Mozart; allerdings werde ich zum Konzert in Japan sein. Ich darf aber bis zwei Wochen vorher mitproben.

Zwei Tage später, am 4. Dezember sangen wir wie jedes Jahr beim Adventsgottesdienst der Uni in der Kathedrale. Die Chorleitung hasst das immer, aber die ehrlicheren Sänger geben zu, dass wir Weihnachtslieder eigentlich mögen. Ellie hat sich dazu angeschlossen, weil sie die Lieder ja alle aus der Vergangenheit kennt. Sie ist ja seit zwei Jahren nicht mehr im Chor, um sich mehr dem Bauchtanz zu widmen. Ich fühlte mich an diesem Tag etwas krank und hatte von zu Hause gearbeitet. Es tut mir aber nicht gut, nur allein im Haus zu hocken. Darum hat mir diese Veranstaltung richtig gut getan. Zum ersten Mal bekam ich ein ganz bisschen Weihnachtsstimmung.

Nach dem Adventssingen in der Kathedrale von Portsmouth

Weitere zwei Tage später habe ich mit meinen tschechischen Freunden sozialistisches Brauchtum gepflegt und Drei Haselnüsse für Aschenbrödel geguckt. Mit dabei waren ihre kleine Tochter, der Opa, sowie Ellie. Ellie und die Tochter haben den Film zum ersten Mal gesehen und ich zum ersten Mal auf Tschechisch. Und habe erfahren: in der tschechischen Version singt Karel Gott über die kleine Birke. Die englische Komponente bestand aus dem berühmten Weihnachtspudding, sogar stilecht mit brennendem Brandy übergossen.


Samstag den 8. Dezember haben wir unseren Weihnachtsbaum gekauft und geschmückt. Ich war erst genervt, dass das unbedingt nach 21 Uhr geschehen musste, aber es hat das Haus in der Tat etwas adventlicher gemacht. Am Sonntag sind Ellie und ich wieder zum schönen Weihnachtsmarkt in Winchester gefahren.

Unser Weihnachtsbaum


Weihnachtsmarkt vor der Kathedrale in Winchester

Am 16. Dezember hatte Ellie Geburtstag und ich hab sie zu einer Überraschungprivatstunde Ballet gefahren. Hat nichts mit Advent zu tun, aber in der Zeit konnte ich kurz aufs Land fahren und dort etwas Ruhe und Alleinsein erfahren. Der Ort Hambledon ist einfach ein Dorf zwischen den Hügeln der South Downs, aber bekannt als der erste Cricketverein der Welt. Mir hat die völlige Stille in der Kirche und ein Abschnitt eines mittelalterlichen Wanderwegs sehr gut getan.


Der restliche Advent ist dann leider völlig an mir vorbeigerauscht bis Weihnachten selbst vor der Tür stand. Am letzten Adventwochenende bekam ich aber schon mein Hauptgeschenk von Ellie: sie nahm mich nach London zu einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums in einer Kirche ganz nah am Parlament. Sie hatte das schon letztes Jahr machen wollen, aber keine Karten mehr bekommen, weshalb sie damals stattdessen die Matthäuspassion im März gebucht hatte. Gesungen hat eines der Colleges der Universität Canterbury, natürlich ganz toll und auswendig, ohne Noten und auf Deutsch.

Westminster Abbey auf dem Rückweg vom Weihnachtsoratorium

Am 24. wurde mir auch nicht besonders weihnachtlich. Erst als ich nach Dunkelheit zum Meer gejoggt bin und etwas allein am Strand gestanden habe, wurde es etwas besser. Unter anderem fehlt mir ganz einfach Bewegung und Interaktion mit Menschen, gerade nachdem ich ein paar Tage zu Hause gearbeitet hatte. Als ich zurück kam, war dann schon der Abendbrottisch gedeckt und erst zu diesem Zeitpunkt bekam ich etwas Stimmung. Anschließend war Bescherung zwischen mir und Ellie sowie die Pakete aus Deutschland. Dann haben wir den traditionellen englischen Weihnachtsfilm "Stirb langsam" geguckt bevor wir zur Mitternachtsmesse gegangen sind. Am Weihnachtsmorgen gab es dann die englischen Geschenke; auch ich habe nochmal einen Weihnachtsstrumpf am Bett hängend gefunden.


Ich hatte mir die ganze Weihnachtswoche freigenommen, aber auch diese Zeit schien zu verfliegen zwischen späten Abenden, spätem Aufstehen, Besuchen und Katzenfürsorge. Eigentlich haben wir nur eine kleine Wanderung in den South Downs gemacht, die dafür besonders schön war.



Heiligabend

Katzenjammer

Seit dem 17. Dezember haben wir eine zweite Katze. Die Geschichte dahinter ist die: eines Tages hörten Ellie und befreunde Katzendiener auf dem Weg nach Hause von der Arbeit einen kleinen Kater nach Hilfe miauen. Das Tier war völlig verängstigt und abgemagert. Wir vermuten es war ausgesetzt worden und konnte nicht gut jagen. Der Tierarzt schätzt ihn auf zweieinhalb Jahre. Sie haben in der Straße erfolglos nach den Besitzern gesucht. Über sympathisierende Anwohner kam die Katze in eine Rettungsstelle, aber Ellie hatte bereits gesagt, dass sie sie übernehmen würde, sollte sich kein Besitzer finden. Wir hatten über die Jahre immer wieder überlegt, ob Buddha einen Mitbewohner mögen würde, wenn wir unterwegs sind, insbesondere seitdem wir 10 Tage in Japan gebucht haben. Am 17. Dezember hat Ellie die Katze dann abgeholt, zum Beginn ihres Weihnachtsurlaubs. Wir nennen ihn Mochi, nach einer japanischen Nachspeise.
Natürlich weiß man nie, ob sich Katzen verstehen. Bisher sieht es nicht gut aus. Nach einigen Tagen Eingewöhnung in einem Zimmer haben wir Mochi in den Rest des Hauses gelassen. Es ist ausgesprochen freundlich und zutraulich mit Menschen. Aber leider scheint er Buddha herumzuschubsen, der sich nicht zu wehren weiß, vermutlich weil er sein Leben lang von seiner Katzenmutti verwöhnt und beschützt wurde, während Mochi auf der Straße gelebt hat und vielleicht instinktiv sein Revier verteidigen muss. Ich war über Weihnachten teilweise richtig genervt, weil die beiden nur unter ständiger Beobachtung zusammen sein können und damit will ich nicht die gesamte freie Zeit verbringen. Manchmal hat mich das richtig an den Zivildienst erinnert, wo ich völlig erschöpft war, die Kinder keine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Nach einigen Tagen hat auch Ellie die Zuversicht verloren. Wir versuchen jetzt noch einmal von vorne anzufangen, die Katzen einige Tage zu trennen und dann ganz, ganz langsam zusammen zu bringen. Aber wenn das nicht funktioniert, müssen wir Mochi zurück ins Tierheim bringen. Das macht uns beide unglücklich, aber wenn wir wieder arbeiten gehen, müssen sich die beiden vertragen. Schließlich können wir Mochi nicht den ganzen Tag in einem Zimmer einsperren.

Fußball

Am 8. Dezember habe ich endlich das Fußballstadion von Portsmouth kennengelernt. Letztes Jahr war ich ja mit Papa bei einem Spiel in Southampton gewesen und hatte den lokalen Verein schon immer mal sehen wollen. Von Kollegen und aus dem Stadtbild hatte ich einen positiven Eindruck des Publikums bekommen, und wenn der Wind richtig steht, hört man an Spieltagen sehr ordentlich Gesänge. Portsmouth hat sich in den letzten Jahren sehr gut erholt. Vor vielen Jahren aus der Oberliga abgestiegen, stiegen sie vor meiner Zeit in die dritte Liga auf (Ellie erzählt, wie damals die ganze Stadt feierte) und haben sich diese Saison bereits den Aufstieg in die zweite gesichert. Gute Stimmung also.  Ellie ist auch mitgekommen, obwohl sie sich auch wenig für Fußball interessiert.Ein fußballinteressierter Freund hat Karten organisiert. Seitdem geburtenschwache Jahrgänge ins Studentenalter gekommen sind, sponsort die Uni den Fußballverein, um unter jungen Leuten zu werben - und Unimitarbeiter kriegen Kartenrabatt. Also waren wir zu dritt, dass allein fand ich schon gut, weil ich seit Mathieus Wegzug immer noch keinen echten Freundenkreis hier habe. Wie wir später erfuhren, waren diverse Freunde auch im Stadion. Das hat mir auch gefallen, weil es noch relativ klein ist und nahbarer wirkt als die großen Arenen. Tradition steckt auch drin: ein Flügel steht unter Denkmalschutz. Und man spürt die Geschichte des Vereins in einer Hafenstadt: vor der Partie wurde die "Hornpipe" gespielt, eine traditioneller britischerr Seemannstanz, über den man sich auf jeden Fall informieren sollte - offenbar hat ihn Händel in seine Wassermusik gesteckt. Und dazu trug man ein Plakat mit der Zeichnung eines Matrosen um das Rund, das ich schon oftmal gesehen hatte; offensichtlich hat es einen lokalen Hintergrund. Das Spiel wurde souverän gewonnen.

Die gegenüberliegende Seite steht unter Denkmalschutz, weil sie ein Stadionarchitekturspezialist 1909 gebaut hat.

Samstag, 17. November 2018

Sternstunde

Heute abend sind wir ein zweites Mal zur Sternwarte in Clanfield gefahren. Das erste Mal waren wir dort zu einem offenen Abend vor zwei Jahren gewesen. Damals konnten wir wegen Bewölkung die großen Teleskope dort nicht benutzen und bekamen Karten, bei klarem Himmel nochmal zurückzukommen. Diesmal war es klar und kalt, und sobald wir aus dem Auto stiegen, sahen wir die Sternbilder am dunklen Himmel. Durch die drei Teleskope vor Ort sahen wir zuerst den Mond, dann den Mars und einen Sternhaufen, und im größten ganz beeindruckende Bilder eines Doppelsterns und eines erkalteten Stern, der seine Hülle gerade abstößt. Interessanterweise sahen selbst die Planeten nicht viel größer als in meinem kleinen Teleskop aus. Aber am meisten hat uns beide die Erfahrung unter dem dunklen Sternenhimmel auf dem Land beeindruckt. Der Blick über die Erdwälle der Sternwarte brachte in mir sofort Vorstellungen von Stonehenge in der Eisenzeit auf.

Wanderlust

Letztes Wochenende habe ich eine schöne Wanderung gemacht. Papa hatte vor seinem vorletzten Besuch in einer Dokumentation von einem besonders guten Burger-Imbisswagen auf Portsdown Hill gehört, dem Hügel direkt nördlich von Portsmouth. Da sind wir einmal mit dem Bus zum Aussichtspunkt dort gefahren, wo so ein Wagen steht. Die Aussicht fanden wir toll, Burger ganz normal. Aber ich habe mir gemerkt, dass die Busfahrt ziemlich angenehm und schnell war, und dass vom Hügel viele Wanderwege in die Ebene im Norden führen, wo alles grün und ländlich ist. Letztens habe ich dann gehört, dass es noch einen zweiten Burgerwagen gibt, etwas weiter auf einem kleineren Parkplatz, und das wäre besonders gut. Also bin ich nochmal da hoch, den Grad entlanggelaufen, an einer der alten Festungen vorbei, habe diesen Wagen gefunden und der macht tatsächlich tolle Burger. Von dort bin ich runter in die Ebene, wo es verschiedenste Wanderwege gibt, aber ich wusste nicht genau, wie lange man läuft. War mir auch egal, denn man läuft über Landstraßen und besonders schöne Buchenwälder, wo momentan Laubdach und Boden aus roten und gelben Blättern bestehen. Letztendlich bin ich bis ganz ins Dorf Southwick gekommen, wo Papa und ich bei seinem letzten Besuch gewesen waren. Das ist erstens hübsch und war zweitens im Krieg Hauptquartier der Landung in der Normandie. Das kann man bis heute besichtigen, aber nur wenn einen das Verteidigungsministerium lässt, denn die haben das Gelände nie aufgegeben. Außerdem habe ich gelernt, dass in der ehemaligen Abtei, von der jetzt nur noch eine Mauer steht, Margarete von Anjou lag, als sie auf der Reise zur Hochzeit mit König Heinrich VI. von England an den Pocken erkrankte. Und die Hochzeit fand dann 1445 in der Abtei Titchfield statt - praktisch direkt neben meinem Büro. Beides wusste selbst Ellie noch nicht. Und wenn ich dem Wirt glauben kann, fahre ich jeden Morgen über eine kleine Brücke, die damals für diese Hochzeit gebaut worden war. Die führt in der Tat direkt auf die Abtei zu.
Auf dem anschließenden Rückweg zur nächsten Bushaltestelle bin ich ordentlich nass geworden. Das war es mir wert, ist aber vielleicht der Grund, warum ich momentan vielleicht krank werde. Mein Körper kann sich seit einer Woche nicht entscheiden.

Arbeit
Dafür hat mir die Arbeit die ganze Woche lang richtig Spaß gemacht. Ich führe zur Zeit zwei Projekte mehr oder weniger alleine durch, werde größtenteils in Ruhe gelassen, und kann vor allem ganz viel programmieren. Das ist das allerbeste - und ich lerne etwas dabei. Meine "Lehre", um die ich mich seit Januar bemühe, habe ich fürs erste auf Eis gelegt, da ich keinerlei Vertrauen mehr in den Anbieter habe. Vor kurzem bekam ich Erlaubnis (und Geld), im nächsten Jahr in Intensivkursen bei uns im Büro drei Module aus dem Aufbaustudium zu machen, aus dem ich schon 2017 ausgetreten war. Darum habe ich gesagt, dass ich die Lehre, sollte sie jemals wirklich stattfinden, erst im nächsten Juli beginne.

Musik
Ich habe dieses Semester noch gar nicht die Musik erwähnt, die wir im Chor singen. Wahrscheinlich, weil es eine Zusammenstellung von kurzen Liedern ist, und das Konzert eine kleine Veranstaltung, gratis. Das Thema ist "Abend", dazu singen wir Stücke von Clara Schumann, Brahms, Bruckner und anderen. Das Hauptstück ist von einer interessanten französischen Komponistin des früher 20. Jahrhunderts, Lili Boulanger. Kannte ich nicht, ihr Abend auf der Ebene gefällt mir aber mit seinen merkwürdigen Dissonanzen.

Mittwoch, 7. November 2018

Ein bisschen Warnemünde

Montag war die jährliche Lagerfeuernacht, auch Guy Fawkes Nacht genannt. Das geht auf einen vereitelten Anschlag auf das Parlament und König 1604 zurück. Traditionell werden dabei Umzüge mit Fackeln gemacht und Strohbildnisse des Papstes verbrannt, wobei heutzutage zunehmend einfach Feuerwerk gemacht wird. Dafür wird ja Silvester praktisch nichts gemacht. Meistens geht das an mir vorbei, aber unversehens fuhr ich Montag abend noch kurz zum Strand und war unvermutet angetan vom Feuerwerk entlang des Wassers in Portsmouth und an Stränden über dem Wasser. Nebel und Rauch zog langsam unter den Laternen vorbei, eine große Gruppe Familien ließ ihre Kinder sicher Feuerwerk auf den Kieseln abbrennen. Mir war ganz gemütlich das alles allein im Dunkeln zu beobachten während hinter mir die Brandung rauschte. Ein bisschen wie Silvester in Warnemünde. Zu Hause habe ich noch etwas Feuerwerk aus dem Dachfenster geguckt.

Die letzten Wochen sind überhaupt viel gemütlich. Ich hatte viele Abende frei, konnte Musik machen. Unter anderem habe ich das Weihnachtsoratorium rausgeholt und studiere weitere Choräle ein.

Und apropos Rostock: auch auf der Arbeit macht es mir derzeit Spaß. Man lässt mich endlich mal programmieren. Und nebenbei arbeite ich wieder mit dem Max-Planck Institut Rostock.

Sonntag, 4. November 2018

Guildford

Heute haben wir die Stadt Guildford auf halben Weg nach London gesucht. Bisher kannte ich den Ort nur von der Durchfahrt oder von Tangoauftritten im dortigen Theater. Da hat er immer furchtbar ausgesehen, graue Nachkriegsarchitektur. Dann hat Ellie berichtet, dass sie mit Freundinnen richtig schöne Ecken gefunden hatte. Darum wollte ich mich auch mal umgucken. So habe ich herausgefunden, dass Guildford eine alte Stadt ist, vermutlich aus angelsächsischer Zeit, an der Furt des Flusses Wey. Der wiederum sah richtig schön aus und wurde schon im 17. Jahrhundert mit dem entstehenden Kanalsystem verbunden, was der Stadt Handelsreichtum brachte und heute eine super Ausgangslage für Bootsausflüge. Fürs Kajak im Frühling vorgemerkt. Überhaupt liegt der Ort, und die gesamte Anfahrt, in sehr schöner Gegen, mit den bewaldeten Hügeln und Tälern der North Downs - wohl dem Gegenstück der South Downs, in denen ich mich hier lokal gerne verlustiere.
Jedenfalls haben wir eine alte Burg Wilhelms des Eroberers gefunden, in dessen Nähe sich der Autor von Alice im Wunderland eine tödliche Erkältung zugezogen hat. Daneben verläuft die alte Hauptstraße, mit vielen alten Häusern, von der Tudorzeit an. Das "Guild" in "Guildford" kommt von "Gilde" im Sinne von Zunft, und in der Mitte der Straße steht die alte Zunfthalle mit allerlei Gepränge. Gegenüber liegt der alte Kornmarkt unter dorischen Säulen, denn obwohl Guildford Marktstadt war, hatte es nie einen Marktplatz. Weiter oben folgt das "schönste Armenhaus des Landes", in Palastform, wo noch heute Menschen mit "bescheidenen Mitteln" leben dürfen. Und wenn man sich dort oben zum Fluss umdreht sieht man, wie direkt gegenüber eine Straße den Hügel wieder raufgeht. Bis heute sieht man den Ursprung des Ortes als Handelplatz an einer Furt. Der Rest der Straße und historischen Häuser sind von Geschäften geprägt, die Ellie damals begeistert hatten und wo auch wir jetzt den Tag großteils verbrachten. Die Hauptstraße ist also schön, und viele schmale Seitengassen auch. Aber ein paar Schritte weiter geht die Misere los, die ich bis dahin immer gesehen hatte. Guildford wurde nicht besonders stark bombardiert. Wir vermuten, dass es im Boom der Nachkriegszeit ganz schnell für Pendler nach London ausgebaut wurde.

Montag, 29. Oktober 2018

Spiele und Kastanien

Seit einigen Jahren habe ich Brettspiele wiederentdeckt. Ich glaube Friedemann hat mir gezeigt, dass moderne Brettspiele richtig gut sind, und mit Mathieu habe ich viele Winterabende damit verbracht. Mit ihm haben ja auch die wöchentlichen Spieleabende begonnen, die ich mit Freunden fortführe. Darum war ich sehr erfreut, dass vor Kurzem ein richtiges Spielecafe in Portsmouth eröffnete. Am Wochenende habe ich es mit Ellie und zwei Freunden ausprobiert. Mindestens zwei von uns waren eigentlich keine Brettspieler; Ellie fehlt generell die Geduld Regeln zu lernen. Aber sogar sie fand das Cafe ganz toll: es gibt eine große Bibliothek von Spielen, die man sich nehmen kann, das Personal erklärt bei Bedarf, es gibt eine Bar mit Getränken und kleinen Speisen und alles wirkt ordentlich. Ich habe eine Theorie gehört, nach der Brettspiele in England beliebt sind, weil sie es den Leute a) das Ausleben von Gefühlen b) mit anderen Menschen erleichtern. Beides ein kleines Problem für viele. Ich glaube, daran ist nicht alles falsch. Die Stimmung war super, gelöst in einer Weise wie ich sie hier selten erlebe. Wir haben über drei Stunden dort gesessen, bis Ladenschluss, und die Zeit schien zu fliegen. Zwei Spiele haben wir probiert, eins über Pandas und eins über Hamster. Ich habe beim Anblick der Bibliothek praktisch gesabbert - alle Spiele will ich ausprobieren.

Sonntag sind wir zur zweit auf die alljährliche Esskastanienwanderung bei Haus Stansted gelaufen. Ich musste mal raus, weil ich die erste Arbeitswoche über auch abends zu Haus gesessen und Musik geübt hatte. Wir haben tolle Herbstfarben gesehen und die Kastanienernte ist dieses Jahr ganz besonders gut. Als wir abends bei Dunkelheit redlich müde auf dem Sofa saßen, wurde uns schon weihnachtlich genug um Ellies Lieblingsplätzchen zu backen: Haselnussscheiben.

Das Musiküben hat sich übrigens auch ausgezahlt: in wenigen Tagen habe ich eine ganze Arie aus Cosi fan tutte gelernt.

Sonntag, 21. Oktober 2018

Weiter im Programm

Nach meiner Rückkehr nach England gab es einen kurzen Tag Ausruhen auf der Arbeit, dann sind wir Samstag nach London gefahren. In der National Porträtgallerie gab es eine Ausstellung über den Einfluss von Micheal Jackson auf die Kunst. Das heißt nicht Kunst über ihn, sondern wie Künstler ihn oder das wofür er stand für ihre Aussage nutzten. Das ging natürlich von Ellie aus, die im Gegensatz zu mir ein großer Fan ist. War ganz gut. Ich habe ja keinen großen Zugang zu moderner Kunst, aber ab und zu spricht einen doch etwas an (z.B. Jacksons Reiterporträt in der Pose von König Philipp II. von Spanien - hätte ich auch gerne) oder ein Gedanke der Beschreibungen hält interessante Gedanken (z.B. seine Rolle für Schwarze in den 70ern und 80ern).

Nachtrag
Ich war vor dem Heimaturluab nicht mehr dazu gekommen, über Papas Besuch zu schreiben. Also: wir haben ihm den Hafen von Bosham gezeigt, wo ich diesen Sommer viel unterwegs gewesen war. Wir haben einen neuen Pub mit schöner Aussicht aufs Wasser als auch bis nach Portsmouth gefunden und haben endlich mal das Dorf Southwick besucht. Das hat mich seit 6 Jahren interessiert, weil im dortigen Herrenhaus das allierte Hauptquartier während der Invasion in der Normandie lag. Die Räume wurden meines Wissens erhalten und können besucht werden, aber nur selten, denn es gehört immer noch dem Verteidigungsministerium. Der Ort selbst war wie erwartet klein und schön, mit vielen alten Häuschen, einen richtigen Dorfladen und zwei alten Pubs, einer davon damals die inoffizielle Offiziersmesse.
In Portsmouth selbst waren wir zweimal in der Altstadt, die ich bei Muttis letztem Besuch selbst neu entdeckt hatte. Wir haben auch zwei Restaurants getestet. Ergebnis: ich schmecke sowieso keinen Unterschied zwischen gut und schlecht. Nur reichlich muss es sein.

Freitag, 19. Oktober 2018

Von drüben

Ellie stellt fest: nach zwei Wochen in Deutschland bin ich immer etwas dünner, und habe immer einen stärkeren Akzent.
Ausgewählte Eindrücke aus Deutschland:

Kloster Neuzelle

Leipzig

Schloss Torgau

Blick aus der Pension auf die Oder, Frankfurt


Stadthafen Rostock

Gespensterwald

Sonntag, 30. September 2018

27. September 2018 - Freizeitkapitän

Ende September habe ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllt und war einen Tag auf einem Segelschiff unterwegs. Letztes Jahr hatte ich von einem Verein erfahren, der das anbieten. Sie bieten Touren zwischen einem Tag und mehreren Monaten an. Der Kapitän und Maschinist sind Profis, und es gibt auch eine ständige Crew, aber für die kleinen Touren zumindest besteht die Mannschaft vor allem aus Freiwilligen. Aber man kann nicht einfach Mitglied werden; erst macht man längere Touren mit, dann empfiehlt einen vielleicht jemand.

Aufs Wasser
Die Fahrt ging von Southampton aus und ging früh los, weshalb ich vorher bei Kalina übernachtete. Im Morgennebel radelte ich zum Schiff, was mittelgroß war, mit drei Masten. Gebaut 2000, speziell für den Verein. Bis Frühstück und Sicherheitseinweisung vorbei waren, hatte sich der Nebel gehoben. Der Tag wurde der schönste der ganzen Woche, nicht kalt, auch nicht zu heiß, trotz durchgängiger Sonne. Nur Wind war praktisch keiner. Darum sind wir unter Motorkraft aus dem Hafen und in die Meerenge vor der Isle of Wight gefahren. Dort haben wir über Mittag gar nicht weit von Portsmouth sozusagen geparkt; es gab Mittagessen und einige Übungen und nachmittag sind wir langsam wieder zurück gefahren. Mir wurde gesagt dass man bei Wind die Segel gesetzt hätte und zwischen den Festungen vor Portsmouth bis etwa zur Ostspitze der Isle of Wight gefahren wäre. Hat mich dieses Mal nicht gestört; ich war nur froh, endlich mal auf einer richtigen Segeltour zu sein.

In die Luft
Die größte Übung war, in die Takelage zu klettern. Ich ging als erster, trotz oder wegen meiner Höhenangst. Wir waren dreifach gesichert und dank der Windstelle bewegte sich das Schiff nicht. Ich habe mich natürlich trotzdem so dicht wie möglich an die Takelage gekrallt. Wir sind nur bis zum Nest auf der ersten Rah gestiegen; darüber kommen noch vier bis zur Mastspitze. Der Blick ist toll! Aber nie im Leben würde ich von der Plattform auf die Rah steigen, nur auf einem Seil stehend, vielleicht noch auf einer höheren Etage oder bei Seegang.

Am Rad drehen
Weil ich als erster rauf war stand ich relativ früh am Steuerhaus rum und wurde gefragt ob ich steuern will. Das heißt, alle durften mal, aber ich bekam gute 20 Minuten. Neben mir stand der Kapitän und gab Anweisungen, die ich wiederholen und dann am Steuerrad umsetzen musste. Nur zweimal hat er geschimpft! Der Ingenieur hat mir gezeigt, wie man am Mast vorbei Land anvisiert um zu sehen, wann sich das Schiff zu drehen beginnt. Ich war stolz wie Bolle so ein ganzes Schiff bei bestem Wetter zu steuern; zu spüren wie sich diese Masse nach meinen Angaben bewegt. Außerdem habe ich verstanden, wie nervenaufreibend es sein muss ein Schiff in einen belebten Hafen voll anderer Schiffe zu steuern, kleiner schneller und großer behäbiger. Je größer das Schiff desto träger ist es natürlich und desto langsamer reagiert es. Du musst also Minuten im Voraus berechnen, welche Geschwindigkeit und Richtung du brauchst, wann sie verändert werden müssen, und wo die andere Schiffe sein werden, die ja auch nicht einfach so aus dem Weg springen können. Neben dem Steuern habe ich im Funk die Koordination zwischen einem großen Containerschiff und der Hafenkontrolle mitgehört, dass klang ziemlich stressig. Das ist später auch an uns vorbeigefahren - ein Berg neben uns, und noch nichtmal besonders groß im Vergleich zu anderen.

Das Schiff



Aber morgens hatte es noch so ausgesehen

Die Tenacious, die Hartnäckige. Baujahr 2000, für den Segelverein Jubilee

Da oben hat die Crew die Segel vorbereitet, die dann doch nicht gebraucht wurden
Der Hafen von Southampton mit einem der Kreuzahrtschiffe

Ungefähr 30 Gäste wie ich waren an Bord
Da oben ging es hoch

Zum Glück nur zur ersten Plattform 

aber das sieht ganz anders aus, wenn man erstmal in der Takelage hängt


Nach getanem Abstieg
Mittagessen


Steuerstolz

Vermutlich etwas schwieriger auf so einem Schiff. Beim Steuern hatte ich den Funkverkehr mit der Hafenkontrolle mitgehört.

Freitag, 28. September 2018

Das Armenhaus und der Weald - Kapitel 2

Kapitel 2 - Meine Mutter

Jetzt ist vielleicht der Zeitpunkt Euch von meiner Mutter Kate und ihrer Familie zu erzählen. Ich erinnere mich an meine Großmutter, deren Name Emmeline war, als eine kleine Frau mit weißem Haar, immer mit einem Stirnband gebunden. Etwa einmal im Monat kam ich aus der Schule und sah sie am Ende der Schulstraße auf mich warten. Sie ging mit mir in einen Laden und ließ mich Süßigkeiten kaufen, dann ging sie meine Mutter besuchen, die noch in der so genannten "Union" lebte.
Den größten Teil ihres Lebens kümmerte sich Großmutter um einen Witwer mit einer Familie von kleinen Kindern. Scheinbar konnte in diesen Zeiten jeder, der junge Kinder aufzuziehen hatte, einen Nachbarn bitten, ihm ein Mädchen für den Haushalt zu leihen. Manchmal bewarn sich der Mann beim Armenhaus auf eine Frau, dem man unter der Bedingung entsprach, dass der Mann das Rechte tun und die Frau heiraten würde. Einige machten dass, aber häufiger wurde die arme Frau nach einigen Jahren, wenn die eigenen Kinder des Manner und der toten Frau alt genug waren sich um sich zu kümmern, mit den Kindern von ihr und dem Mann auf die Straße gesetzt und sie hatte keine Wahl als zurück ins Armenhaus zu gehen. Im Fall meiner Großmutter blieb sie die Haushälöterin des Manner bis er starb. Sie hatte da selbst ein gutes Alter, mit drei Kindern, Kate - meiner Mutter - und zwei Jungs. Bis auf einen Ehering war sie seine Frau, aber als er starb wurde ihr nichts vermacht und sie endete ihre Tage in einem Spital.
Meine Mutter und ihre zwei Brüder gingen zu Uroma, die selbst verwitwet war. Jeden Tag half Mutter im Haus und arbeitete dann auf den Feldern mit den Jungs. Den Erzählungen meiner Mutter nach arbeitete sie von morgens bis abends und half dann im Haus während ihre Brüder aus waren. Das war zu der Zeit recht gewöhnlich. Ein Mädchen war einfach Mobiliar. Im Fall meiner Mutter musste sie für ihren Unterhalt arbeiten. Es war eine schreckliche Sache, dass ein außereheliches Kind sein ganzes Leben ein Stigma trug. Erst jetzt beginnt man es in einem anderen Licht zu sehen. Die Schande daran war, dass Mutter scheinbar eine gute Bildung erhalten hatte, bezahlt von einer Tante die sie auf eine Privatschule schickte. Die Tante war kinderlos wie es scheint und hätte Kate gerne bei sich leben gehabt, aber Mutter war für ihre Großmutter sehr nützlich und konnte schon in sehr jungem Alter Disteln jäten, Feuerholz hacken, den Waschzuber füllen und so weiter.
Jeden Montag war Waschtag und früh morgens musste Feuerholz angezündet werden, dass ihre Brüder im Winter gemacht und Mutter mit einem biegsamen Band gebunden hatten. (Das erfordert einen Trick den ich nie meistern konnte. Jedes meiner Bündel war lose und fiel leicht auseinander.) Freitags war Backtag, diesmal mehr Holz von kürzerer Länge, in einen riesigen Backofen getan.

Der Ofen musste mit Holz weißglühend geheizt werden, dann wurde die Asche rausgekehrt und dann begann das Backen. Das Backen der ganzen Woche wurde in einem Durchgang gemacht., Brot, Kuchen, Pasteten, alles. Alles wurde am gleichen Tag gemacht. Wie sie es im Sommer frisch hielten weiß ich nicht, aber sie hatte alle möglichen Sachen die wir heute mit unseren modernen Mittelchen nicht brauchen. Ich erinnere mich wie Tante Bea sagte man hätte Essen in eine wasserdichte Dosen und dann in den Brunnen getan. Diese Backofen waren richtig ökonomisch. Einmal heiß blieben sie heiß und Essen konnte in verschiedene Ecken für unterschiedliche Temperaturen geschoben werden.

Der Heizkessel war aus echtem Kupfer und wurde nach Gebrauch geputzt und poliert bis man sein Gesicht darin sehen konnte. Ich hatte so einen Kupferkessel und sie sehen schön aus wenn sie poliert sind. Heutzutage werden sie von Händlern gekauft und sind ziemlich wertvoll. Ich hatte einen als ich Hausmagd war. Darin wurde Feuerholz aufbewahrt.
Meine Urgroßeltern waren landlose Bauern, die von einem großen Gut bei Shadoxhurst bei Woodchurch einen kleine Hof mieteten. Sie mussten sich scheinbar sehr vorsichtig verhalten und den Gutsbesitzer in keiner Weise gegen sich aufbringen.
Zu dieser Zeit arbeitete Mutter auf den Feldern; sie befreundete einen jungen Mann, den Neffen eines der Landbesitzer im Dorf. Es musste ein Geheimnis sein, obwohl ihre Brüder eingeweiht waren. Wie alle solche geheimen Stelldicheins wurde es entdeckt. Meine Mutter erfuhr davon als der Landbesitzer zu ihrer Großmutter kam und verlangte, dass deren Enkelin nie wieder mit seinem Neffen sprach. Als Mietsbäuerin war sie nicht in der Position abzulehnen. Ohnehin war sie schockiert, dass es "vor ihrer Nase" geschehen war, wie sie sagte.
Bevor meine Mutter wusste was geschah wurde der junge Mann nach Rhodesien geschickt, während Mutter die Suppe auslöffeln und schließlich zugeben musste, dass sie schwanger war. Mutter sagte immer der Mann hätte sie wie versprochen geheiratet, aber ich bin mir nicht so sicher. Ich werde nie etwas anderes als Verachtung für meinen Vater übrig haben. Ich war einer der von meiner Illegitimät am meisten verletzten Menschen. Meine Urgroßmutter war außer sich. Es brachte Schande für das ganze Haus. Sie sagte, dass sie ihren Kopf vor Scham einzog wenn sie einen Bekannten traf. Ohne Zweifel tat sie dass, aber die Tatsache ist, dass sie ihre Tochter selbst weggeschickt hatte um mit einem Mann zu wohnen, seine Brut zu pflegen, im vollen Bewusstsein, dass der Mann drei Kinder und nur zwei Schlafzimmer hatte.
Ich denke viel dieser gerechten Empörung war schiere Heuchelei und ein Deckmantel ihrer eigenen Schuld in dieser ganzen traurigen Angelegenheit. Als Mutter sichtbarer schwanger wurde, wurde sie weggeschickt und sollte nicht wieder kommen. Das klingt heute furchtbar, wo die meisten Mütter ihrem Mädchen in so einem Fall beistehen würden. Damals kam so etwas häufig vor. Ich erinnere mich sogar wie eine Mitschülerin eines nachts rausgeworfen wurde und um zweiundzwanzig Uhr zur Union gehen musste. Die Eltern gaben später nach und nahmen sie wieder auf. Das Baby verschwand.  Man sagte sie wäre an eine kinderlose Verwandte gegangen.

Mutter musste den langen Weg von Shadoxhurst zur Union in Tenterden gehen. Ich kann mir vorstellen welchen Aufruhr sie gefühlt haben muss als sie da lief, von jedem verstoßen, verachtet von denen die ihr hätten Mitleid zeigen können. Mutter sagte sie wollte den nächsten Teich suchen und es alles beenden. Je näher sie kam desto schlimmer fühlte sie sich. Sie dachte mit Schrecken was mit ihr geschehen würde. Ich selbst wache manchmal mit dem Gefühl auf, dass etwas schreckliches passieren wird. Es geschieht nie und jetzt nehme ich es gelassen, aber ich bin mir sicher es ist ein Erbe dieses Gangs, den meine arme Mutter an jenem Tag nach Tenterden machen musste.

Im Arbeitshaus arbeitete Mutter bis ich geboren wurde und durfte mich danach zum Füttern sehen. Ansonsten war ich in der Krippe mit Fan. Als ich älter wurde durfte Mutter mich nur einmal pro Woche sehen, aber ich erinnere mich nicht daran. Als der Sommer kam brauchte Urgroßmutter Mutter als Hilfe auf dem Hof weil einer der Brüder weggezogen war um als Stallbursche zu arbeiten. Mutter durfte dafür raus wenn sie mich mitnahm. Natürlich erinnere ich mich an nichts, nur daran, was ich aus Gesprächen mit meiner Mutter erfuhr.

Sobald die Ernte eingeholt war, wurde Mutter zurück ins Arbeitshaus geschickt. Im nächsten Jahr war es das gleiche und im nächsten, aber am Ende jener Saison bekam Mutter eine Stelle als Bedienstete am College in Wye. Ich blieb dieses Mal bei meiner Uroma. Mutter ging es dort gut und sparte eine ganze Menge Geld, das sie ihrer Großmutter für meinen Unterhalt gab. Arme Frau, sie konnte nicht gewinnen. Dort am College verstand sie sich gut mit einem Schüler. Sie hätte ihre Lektion beim letzten Mal gelernt haben sollen, aber ich vermute ein wenig Freundlichkeit ließ sie vergessen, dass der andere Mann sie im Stich gelassen hatte. Die Tatsache blieb, dass sie wieder schwanger war und der Schüler verschwunden.
Es war wieder die gleiche traurige Geschichte und sie blieb in der Union bis sie achtundsechzig war, als ich sie zu mir nehmen durfte. Ich hatte versucht sie zu mir zu holen sobald ich genug Platz für sie hatte, aber der Pflegerat erlaubte es mir nie. Als sie endlich kam war es zu spät. Da war sie schon institutionalisiert und in all den siebzehn Jahren, die ich sie bei mir hatte war sie niemals wirklich entspannt mit mir und behandelte mich als eine Art Autorität über sie.

Montag, 24. September 2018

Das Armenhaus und der Weald - Kapitel 1

Vor etwa vier Jahren habe ich die Autobiografie von Ellies Uroma gelesen. Über einige Gespräche nach der Beerdigung ihrer Oma habe ich begonnen, sie nach und nach zu übersetzen. Wird lange dauern - ich veröffentliche Kapitel für Kapitel.

Dorothy Hatcher
Das Armenhaus und der Weald*
Meresborough Books, 1988

Weald: Eigenname einer Hügellandschaft im Südosten Englands

Kapitel 1 - Das Armenhaus
Ich werde mich immer an Fan erinnern, eine kleine weise alte Frau mit einem Haarknäuel am Hinterkopf. Fan kümmerte sich um uns im damaligen Krippenteil des alten Armenhauses** von Tenterden. Ich bin mir sicher sie mochte uns auf ihre Art, musste aber Anweisungen befolgen die Kinder ruhig und artig zu halten. An der Wand war eine Notiz, die die Regeln der Kinderabteilung festlegte, wie ich später erfuhrt. Ich fand ihre Weise sich um die Kinder zu kümmern sehr anders als meine für meine Kinder später in meinem Leben.
**wörtlich übersetzt "Arbeitshaus" - Arme durften dort wohnen, mussten aber hart arbeiten. Im Deutschen klingt "Arbeitshaus" nicht.

Morgens aßen wir zuerst Frühstück; Haferbrei, Brot und Margarine. Ich erinnere mich nicht viel an die anderen Mahlzeiten. An das Frühstück erinnere ich mich wegen dem, was direkt darauf folgte. Jedes kleine Kind wurde aufs Töpfchen gesetzt und musste dort bleiben bis es seine Plicht getan hatte, und Wehe dem Kind das beim Morgenritual nichts vorzuweisen hatte - das hieß einen harten Klatsch auf den Hintern und ich erhielt oft diese Strafe.
In der Zwischenzeit bereiteten sich die älteren Kinder auf die Schule vor. Sie trugen alle die gleichen braunen Kleider, schwarze Mäntel und runde braune Hüte. Natürlich erinnere ich mich nicht an alles aus dieser Zeit, aber ich sah sie später vielmals. Eigentlich kann ich mich an überhaupt nicht viel aus dieser Zeit meines Lebens erinnern - ich war erst vier.
Ein Ereignis sticht jedoch heraus. Eines Tages wurde ich von Fan den Flur entlang zur Oberin genommen, was immer alarmierend war, denn das wurde als Bestrafung für jedes Missverhalten über uns gehalten. "Ich nehme Dich zur Oberin", sagte Fan an jenem Morgen, sodass ich etwas beunruhigt mit Fan ging. Sie hatte mit keinem Wort erwähnt, warum wir zu ihr gingen und natürlich befürchtete ich das Schlimmste. Aber als wir ankamen, lächelte die Oberin und sagte "Weißt Du, welcher Tag heute ist?" Natürlich wusste ich das nicht. "Dein Geburtstag" sagte sie und gab mir eine schöne Puppe. Sie hatte schöne Lockenhaare und braune Augen. Ich hatte so etwas nie zuvor gehabt. Ich hatte so etwas noch nichtmal gesehen. Ich erinnere mich, wie ich sie an mich drückte als ich vor der Oberin stand und sie weiter sagte, was sie zu sagen hatte.  "Du bist jetzt vier Jahre alt", sagte sie. "Alt genug "nach draußen" geschickt zu werden." Das meiste ihrer Rede ging über meinen Kopf hinaus, aber ich wusste, dass Leute zur Tür der Krippe kamen und sich ein oder zwei Kinder ansahen und ein paar Tage später wurden die zum Zimmer der Oberin genommen und nie wieder gesehen.

Fan und ich gingen zurück in den Tagesraum wo sie sogleich meine schöne Puppe wegnahm und im Schrank einschloss, "damit sie sauber bleibt" sagte sie. I sie nie wieder und fand später heraus, dass sie der Reihe nach für jedes kleine Mädchen benutzt wurde; die Jungen hatten ein ihnen entsprechendes Spielzeug. Ich erinnere mich nicht meine Mutter je gesehen zu haben, aber das muss passiert sein, da die Regel war, dass alle "Insassen" erlaubt sein sollten ihre Kinder zu sehen, wenn welche im Haus lebten. Samstag waren Besuche erlaubt.

Eines Tages zog mir Fan meine saubere Schürze an und ich wurde zur Tür genommen, damit mich eine Frau sehen konnte, aber sie wählte das andere Mädchen und ich wurde wieder zurück in Krippe genommen. Das passierte noch einige Male bis ich eines Tages einem Mann und einer Frau vorgeführt wurde. Sie standen an der Tür und Fan sagte "Wir finden kein Haus die hier - sie ist so hässlich." Naja, ich habe nie über mein Aussehen nach Hause schreiben können und scheinbar war ich zu dieser Zeit richtiggehend hässlich. Die Frau und der Herr sahen sich aber uns beide an - ein anderes Mädchen war neben mir auch dabei - und wählten sofort mich aus. Dann ging ich nach oben zur Oberin, die sagte sie freute sich endlich ein Heim für mich gefunden zu haben.

Ich bekam einen neuen Satz Kleidung, jeweils zwei Stück, und ein paar Tage später wurde ich von meiner neuen Mutter abgeholt. Mir wurde gesagt Acht zu geben ein artiges Mädchen zu sein, sonst würde sie mich zurück bringen. Ich saß in einem Kinderwagen und wurde zu ihrem Haus in Smallhythe*** gebracht.
***5km von St. Michaels wo Ellie aufwuchs, und 13km von Cranbrook, wo der Rest der Familie wohnt und wir zur Beerdigung ihrer Oma waren)

Sie erzählten mir später, dass sie mich auswählten, mein Gesicht allein aus Augen und Nase zu bestehen schien und ich so ein lustiges kleines Dinge gewesen war. Sie waren sich sicher, dass sie genau so jemanden wie mich brauchten um ihr Heim zu einer vollständigen Familie zu machen.
Später erfuhr ich, dass das Paar gerade geheiratet hatte. Es war 1909. "Tante Bea", wie ich sie nennen würde, hatte ihr ganzen Leben als Krankenpflegerin gearbeitet. Sie zog einen Monat vor der Geburt eines Kindes in ein Haus und blieb einen Monat nach der Geburt. Ich hörte viele Geschichten, in welchen schönen Häusern sie gewohnt hatte und wo sie, als Pflegerin, von den Dienern bedient wurde und selbst keine Hausarbeiten machte. In der Folge wurde sie in ihrem eigenen Haus sehr unordentlich und schien immer in einem Durcheinander zu stecken.
Onkel Ambrose war ein viel älterer Mann, mindestens dreißig Jahre älter als seine Frau. Es war wirklich eine Komfortehe, denn beide brauchten Gesellschaft und keiner hätte im Traum daran gedacht außerehelich zusammenzuwohnen, also heirateten sie und entschieden sich ein Kind aufzunehmen, um es eine Familie zu machen.
Ich liebte dieses Paar bald und sie waren, für mich, meine Eltern. Onkel war ein alter Mann mit rosigen Wangen und Schnurrbart, der früher ein Ochsenführer in Sussex gewesen war. Still und immer sanft was auch immer ich tat hob er kein einziges Mal die Hand gegen mich und ich weiß dass ich es manchmal verdient hätte. Er hätte mit seinen rosigen Wangen und seinem buschigen Bart einen tollen Weihnachtsmann abgegeben.
Tante Bea war viel jünger, aber trotzdem recht alt um die Verantwortung für ein Kind wie mich zu übernehmen. Es kann nicht einfach für sie gewesen sein. Sie glich jeden Mangel mit ihrer großen Liebe für mich aus. Als ich älter wurde, verstand ich, dass sie von anderen als exzentrisch betrachtet wurde und das war sicherlich der Fall, aber sie zeigte mir zum ersten Mal in meinem Leben Liebe, eine Liebe, die ein ganzes Leben lang anhielt. Beide standen durch alle Geschehnisse meines späteren Lebens hinter mir - für mich waren sie immer meine Eltern.

Sonntag, 23. September 2018

Alte Knochen in Lyme Regis

Um den 22. September sind Ellie und ich auf einen weiteren Wochenendausflug gefahren. Dieses Format gefällt uns mehr und mehr, da es wenig Planung erfordert und Buddha nicht lange allein ist. Dieses Mal ging es nach Lyme Regis, einen relativ kleinen Hafenort in den Klippen an der Südküste der Grafschaft Dorset, drei Autostunden westlich von Portsmouth. Der Ort fällt die steilen Hügel zum Meer hinab; wir hatten eine Wohnung ganz oben. Am Abend unserer Ankunft hatten wir noch Zeit den kleinen Fluss und diverse hübsche, teure alte Häuschen entlang direkt in den Hafen zu laufen. Das war von der Aussicht her schon die schönste Zeit, denn das restliche Wochenende würde es regnen. Das Städtchen selbst ist historisch und hat viele schöne Gassen, aber der eigentliche Trumpf ist das Meer. Man hat eine tolle Blick auf die Steilküste, nach Osten hin bis zur Insel Portland gegenüber des Ortes Weymouth, wo ich vor einigen Jahren mit Mathieu gewesen war. Der Hafen von Lyme Regis ist bekannt für seine Seemauer, den Cobb, der ins tiefe Wasser ragt und eine ruhige Ankerzone ermöglicht, früher für diversen Fracthverkehr, heute für Fischer- und Freizeitboote. Wir sind bis fast zur Spitze gelaufen, wo bei starkem Wind die Wellen anklatschen, während darüber der Vollmond aufging. Bei Dunkelheit haben wir einen ruhigen Tisch in einem Cafe direkt am Meer gefunden; ein Vorteil der Nebensaison.

Samstag hat es fast durchgehend geregnet, aber das war ok. Seine eigentliche Berühmtheit hat Lyme Regis nämlich durch die unzähligen Fossilien erhalten, die bis heute oft an der erodierenden Küste gefunden werden. Hier wurde Paläontologie praktisch geboren, insbesondere durch die heute erst richtig anerkannte Mary Anning. Das war ein armes Mädchen, dass Fossilien an die gnändigen Herrschaften verkaufte und dadurch zur ersten Expertin wurde, durchaus schon zu Lebzeiten anerkannt. Die ganze Stadt ist voller Fossilienläden und auch das Stadtmuseum konzentriert sich auf sie. Als Beispiel für den Fundreichtum: das Lokalmuseum eines Ortes von der Größe Templins hat an der Wand mehrere fast vollständige Skelette großer Dinosaurier hängen. Insbesondere Ichtyosaurier, der von Mary Anning hier zuerst gefunden und identifiziert worden war.
Am Nachmittag sind wir noch in ein zweites, privates Fossilienmuseum gegangen. Das wird von einem Paläontologen und seiner Frau geführt, ist ganz traditionell ein Riesenschaukasten aller seiner Funde, mit selbstgeschriebenen Erklärungen, und hat uns beiden ganz besonders gefallen, nachdem wir es zuerst für altmodisch und amateurhat gehalten hatten. Ich hätte in beiden Museen stundenlang bleiben können, dann ein Buch drüber lesen und damit wieder zurückkommen.
Vor, zwischen und nach den Museen haben wir fleißig Geld ausgegeben. Unter anderem für guten Wein aus einem Laden von Vertretern der Mittelklasse. Auf deren Empfehlung sind wir ganz zum Schluss noch italienisch Essen gegangen; man gönnt sich ja sonst nichts. Dabei haben wir noch gelernt: ein paar Kilometer vor der Küste leben Delfine. 1998 sind die einmal bis in den Hafen gekommen. 
Auf dem Landweg zum Hafen


Blick nach Osten
Die Strandpromenade bis zum Hafen


Im Hafen liegt auch irgendwo das Fischerboot unserer Gastgeber




Der Ort von der Hafenmauer aus gesehen
Nachmittags sind wir durch Zufall noch Zeugen einer Parade des lokalen Armeeregiments geworden. Ich werde mich mein Lebtag nie wirklich daran gewöhnen.