Jetzt sind die Prüfungen vorbei. Zur Makroökonomie am 02.06.2011 ist leider nichts anderes als zu den vorherigen zu sagen und langsam weiß ich auch nicht mehr, was ich überhaupt noch sagen soll. Ob ich zuviel lerne oder zu wenig, mich zu sehr oder zu wenig auf Details konzentriere, mehr in der Bibliothek bin als andere aber die ganze Zeit träume, ob ich die Aufgaben ernster nehmer als erwartet wird, mir Intelligenz fehlt oder Fleiß oder beides oder am Ende nicht doch alles besser ausgeht als es sich anfühlt.
Letztens hatte ich große Freude, mich mit einem chinesischen Elektroniker über ein mathematisches Problem zu unterhalten. Daneben stimmte er zu, dass englische Studenten nicht sehr ernsthaft arbeiten und das Unileben hier allgemein zu sehr auf Spaß fokussiert ist. Aber ich fürchte im Gegensatz zu ihm und den anderen Chinesen, die 90% sämtlicher sinnvollen Kurse ausmachen (mit zunehmender Tendenz auf höheren Niveaus) kann ich es mir fürs erste nicht mehr leisten, diese Meinung zu laut zu vertreten.
Ende ist die allgemeine Stimmung derzeit. Die Vorlesungen sind vorbei, die Prüfungen auch, Freund und Feind verlässt York, mir bleibt eine diffuse Dissertation, Sorge um die Arbeit danach und ein melancholisches Gefühl ähnlich dem am Ende des Sejm Praktikums hier am Ende das Licht auszumachen. Die Gesundheitsökonomen insbesondere gehen auf Praktika, z.T. bis nach Australien. Die schreiben dann erst im September ihre Arbeiten. Noch läuft die Prüfungsphase, aber ich vermute, die Bibliothek wird sehr bald wieder sehr leer sein. Und gerade jetzt kann man endlich wunderbar arbeiten. Der Baulärm ist vorbei, der erste Stock nach der Renovierung wird wieder freigegeben und zum ersten Mal überhaupt sehe ich das Gebäude ohne Gerüste. Nun ja, nach der letzten Klausur wird einem bewusst, dass das Jahr fast vorbei ist, man die Abschlussarbeit ja wohl sehr allein schreiben wird, nirgends mehr regelmäßig erscheinen muss, keine kurzfristigen Aufgaben zu erledigen hat und dann die Studienzeit als solche zum Ende kommt.
Noch aber habe ich die Universitätseinrichtungen zur Verfügung und trotz aller Melancholie und des schlechtes Gewissens wegen der Prüfungen fehlt mir nicht die Spaß, sie jetzt erstmal nur nach meinem eigenen Interesse zu nutzen. So habe ich die Kurzeinführung über Augustinus sowie sofort danach die über das angelsächsische England durchgelesen. Habe mich schon lange für diesen am schwierigsten zu dokumentierenden Abschnitt der englischen Geschichte interessiert. Jetzt lese ich über Thomas von Aquin. Daneben aber bemerke ich eine merkwürdige Hinwendung zur früher verachteten Regionalgeschichte. Mit Interesse lese ich mir im Moment insbesondere die Frühgeschichte speziell kleiner Orte meiner eigenen Umgebung wie der Uckermark, Frankfurt, Rostock und Magdeburg durch.
Aber genau solcher Spaß darf nicht von der Masterarbeit ablenken. Aus der oft erwähnten Angst vor dem Lotterleben, wo ich 12 Stunden in der Bibliothek döse und über den grauen Himmel nachdenke, heraus habe ich eine (sehr) kleine Nebentätigkeit begonnen. Ich übersetze auf einer Internetseite kurze Marktmeldungen für Währungshändler aus dem Englischen ins Deutsche. Die Bezahlung ist marginal, aber ich habe gezielt die Schicht von 6.30-8.00 Uhr genommen, die mich aus dem Bett und danach direkt in die dann öffnende Bibliothek schaffen soll. Außerdem lerne ich so Fachvokabular.
Die Tage vor der Prüfung sowie unten erwähnte Ärgernisse haben in den letzten Tagen auch zu einem guten Jojoeffekt mit Schokolade, Keksen und Fastfood geführt. Am Freitag besuchte ich eine erste, sinnfreie, der sommerlichen Arbeitsmarkt-Infobörsen an der Uni. Samstag war ein ebenfalls enttäuschendes Fussballturnier, wo ich lediglich einen Sonnenbrand gewann weil ich einmal kurze Sachen trug, und das obwohl die Morgensonne sehr bald wieder Grau und Wind wich. Durch diese Aktionen ist Schloss Howard jedenfalls erstmal aufgeschoben, wird aber nachgeholt sobald das Wetter die leichtesten Anzeichen von Sonne zeigt. Dann baue ich das auch zu einer Radtour aus, 56km entlang der A64. Auf dem Hinweg liegt auch die Ruine der Augustinerabtei Kirkham und zurück fahre ich vielleicht mit dem Zug aus dem nahen Marktflecken Malton, laut Karte attraktiv den Fluss Derwent entlang.
Nachdem ich das bereits mit seinen Studenten gemacht habe, will ich zum Schluss auch mal ordentlich über mein Gastland herziehen. Letztens war ich kurz mit Freunden im Zentrum etwas trinken. Da ich sowas lange nicht mehr gemacht hatte, hat mich eine Erkenntnis wieder getroffen: in diesem Land kann man Samstag abend einfach nicht ausgehen. Diese Menge betrunkener, dicker, stilloser Menschen treibt mich wirklich jenseits der Gelassenheit; in jeder Bar muss man sich durch diese Masse zur Theke schlagen und quetschen, und eine Lautstärke herrscht, dass man sich nicht unterhalten kann und dann auch gar nicht erst ausgehen braucht. Gut, wenn man nicht reden kann, kann man wenigstens tanzen, aber das macht hier keiner bevor er nicht so widerlich betrunken ist, dass er auf allen Vieren durch den Mageninhalt anderer vor ihm durch die Straße in ein Taxi kriecht. Das ist ja bekanntermaßen das allgemeine Ziel hier, darum auch der Ansturm auf die Kneipen selbst wenn man nichts machen kann außer sich gegenseitig zu drängeln.
Die Männer sind allermeistens ist lautstarken Trupps unterwegs, sie fangen damit an wenn sie 14 sind und am Verhalten ändert sich danach nichts mehr. Auch die Frauen übrigens immer in Schlägertruppstärke, mindestens genauso laut, und sie zeigen viel mehr Haut als man wirklich sehen will. Ich frage mich immer, wie sich dieses Volk fortpflanzt...Ach, englische Frauen, ewiges Gesprächsthema unter Ausländern. Das geht ja schon zu Hause los: wenn man morgens ins Wohnzimmer kommt und da liegt schon wieder eine formlose Masse auf dem Sofa, grundsätzlich durch den Mund atmend, irgendein Gast der englischen Mitbewohner, verdreht so wie sie nachts betrunken dort hingefallen ist. Emilies Gäste sind immer hübsch. (Am hübschesten sind natürlich meine.) Dann die Küche wieder voll mit ungewaschenem Geschirr, was auch am Abend nicht verschwunden ist.
Tagsüber finde ich könnte ich noch ein paar Jahre in England bleiben, weil man nirgends so eine internationale Athmosphäre hat. Und nachts beobachte ich bei mir eine regelrechte Romantisierung meiner anderen Wohnorte, vergesse ganz kulant die unschöneren Aspekte Polens und sogar Magdeburgs – besser langweilige Menschen als sowas. Und in Magdeburg gibt es Bäckereien. Und trinken können sie hier auch nicht. Immer irgendwelchen höllischen bunten Mischungen, kein Wunder dass alle dreimal die Woche Filmriss haben. Und dazu nächtliche Käsepommes vom Imbisswagen in der Stadt, und zu Hause wird nochmal eine Pizza in die Mikrowelle geschmissen. Dann fällt man bewusstlos um, und bis sie abends wieder rauskommen liegen die Überreste in der Küche. Es ist ironisch, sechs Jahre habe ich gewartet, wieder nach England zu kommen, und an den Nächten des Wochenendes verstehe ich mehrjährig hier lebenden Bekannte, die möglichst schnell weg wollen.
Meine Mitbewohner tun wie immer auch nicht viel für die lokale Bindung. Am letzten Maitag ist plötzlich Ella ausgezogen, die letzte der ursprünglichen Bewohner. Da sie das ohne Ankündigung und Abschied gemacht machte, vermutete ich erst stark, dass ich soeben um die ausstehenden Rechnungensrückzahlungen geprellt wurde. Nun, abends habe ich sie doch kontaktieren können und scheinbar hat sie ihren Mietvertrag anders als der Vermieter interpretiert und ist daher schon raus.
Die Rechnungen sind ein typisches Beispiel für die Probleme in unserem Haus. Ich bin ja kaum zu Hause und niemand sieht die anderen sehr häufig. Genau darum lebe ich ja auch dort: da ich zu Hause eh nicht arbeite bin ich lieber so viel wie möglich an der Uni, und daher passt mir auch eine geringe Grundmiete, da ich persönlich separat kaum Strom, Gas oder Wasser verbrauche. Leider kann man das von den anderen nicht unbedingt sagen und diese Rechnungen werden ja geteilt – aber da sage ich in WGs muss man Kompromisse machen, irgendwie arrangiert man sich. Aber hier klappt das einfach nicht. Der grundsätzliche Pferdefuß ist die Kommunikation, gut zu sehen im Fall dieser Rechnungen. Das ist von Ella sehr ungeschickt gemacht worden. Ich bezahle jeweils Gas und Wasser und hole mir dann das Geld zurück. Sie macht dasselbe fürs Internet, nur hat sie scheinbar nie Geld von den anderen eingesammelt. Jetzt muss wieder ich das klären, die Rechnungen in ihrem Namen einsammeln und mit ihren Schulden bei mir verrechnen. Sie ist nämlich bis August zu Hause im Süden. Mann mann mann, als wenn außer mir noch nie jemand in einer WG gewohnt hat. Oder allein bis drei zählen kann. Und ich dachte ich wäre nicht sehr praktisch veranlagt. Ok wir sehen uns kaum, aber warum bin ich der einzige, der andere z.B. über Rechnungen informiert, per Handy, Aushang oder abends einfach mal klopft. Oder sich überhaupt erstmal um die Rechnungen kümmert...
So kriege ich also (nun, vielleicht) die Rechnungen zurück, aber bis das alles organisiert ist wird es dauern. Bisher wollte ich nicht den Chef spielen, aber nach dieser unangenehmen Überraschung hänge ich jetzt die Wand mit Mitteilungen voll: es muss Ordnung in dieses Haus. Man mag mir vielleicht Dummheit vorwerfen, die Organisation zu übernehmen und beim Geld einsammeln bisher relativ kulant gewesen zu sein. Aber wenn ich bedenke, was die Alternative gewesen wäre muss ich sagen – sonst hat das keiner auf die Reihe bekommen, irgendwer musste das Heft in die Hand nehmen. Ich habe das gemacht, weil das bisher in jeder WG geklappt hat. Ich habe immer gesagt, egal wie fremd man sich ist, wir sind alles halbwegs erwachsene Menschen und findet einen Weg, die Wohnung zu organisieren. Schließlich geht es nur ums Mitdenken; man braucht keinen Putzplan wenn einfach jeder Müll einsammelt den er sieht. Das liegt auch weder an kulturellen oder Altersunderschieden. Die Ukrainer haber ihre Rechnungen immer pünktlich bezahlt und sogar im geteilten Lodzer Wohnheimszimmer hat es gereicht, den Mund aufzumachen und man hat sich irgendwie geeinigt, wann das Licht ausgemacht wird. Aber hier klappt das ohne feste Regeln scheinbar einfach nicht. Niemand sagt was und dann wundert man sich, wenn jeder gegen jeden Vorwürfe hat. So einen simplen Mangel an Willen, Iniative und gesundem Menschenverstand habe ich noch nicht erlebt. Ehrlich, wer zieht aus, ohne vorher seine Rechnungen eingesammelt zu haben?
In organisatorischer Hinsicht helfen evtl. die neuen Mitbewohner Timm und Maria aus Bremen und Köln, die uns am 1.6. vorgestellt wurden. Sie kommen Anfang Juli, wenn sowohl Emilie als auch die zweite Engländerin auszieht. Nette Leute, beenden hier auch ihren Master in Theater und Film. Soweit ist es gekommen, dass ich deutsche Mitbewohner mit Erleichterung erwarte. Ihnen habe ich auch einige Plätzchen zum Probieren gegeben. Meine Dosen und Schachteln sind gefüllt mit Nussmakronen, Mandelkeksen, Vanille- und Zimtkipferln und sogar Bratäpfeln: Weihnachten kann kommen.