Donnerstag, 23. Juli 2020

Schlechte Zeiten Gute Zeiten

Direkt nach dem vorletzten Eintrag über Ottos besseren Schlafrhythmus hat er ihn sofort wieder geändert. Diese Nacht wurde die bis dahin Schlimmste seit der Geburt, wo ich von 19 Uhr bis Mitternacht mit ihm auf den Beinen war, weil er nicht schlafen wollte. Und  zwei Tage darauf kam die nächste Schlimmste Nacht, nach der gefürchteten dritten Impfung mit der Meningitis, und die Nacht einfach mal überhaupt nicht schlief. Zum tausendsten Mal haben wir "Schlafrückfall" und "Zähne" gedacht - inzwischen weiß ich gar nicht mehr, woran ich das noch erkennen sollte. Seitdem wird es langsam wieder besser, aber diese letzte Woche spüre ich, dass auch meine nervlichen Reserven nach vier Monaten langsam alle sind. Das heißt nicht unbedingt, dass ich ständig schlecht drauf bin. Aber wenn mal etwas schief geht, insbesondere nachts, flippe ich viel schneller aus, weil einfach keine Kraft mehr da ist, es aufzufangen. Und es ist auch nicht unbedingt wegen Ottos Verhalten so, sondern, weil ich seit Monaten kaum Zeit für mich selbst habe, um mal abzuschalten und wieder aufzuladen. Unsere derzeitige Tagesroutine:
  • 7 Uhr aufstehen und ich bespaße Otto
  • 8.45 Uhr übernimmt Ellie für den Rest des Tages während ich arbeite - die erste dreiviertel Stunde geht aber meist für dringendes im Haushalt drauf
  • Mittags habe ich seit kurzem eine Stunde extra frei von meinem Arbeitgeber, wo ich Ellie eine Pause nehmen lasse und sie meistens für uns kocht
  • 17.30 Uhr mache ich Feierabend und übernehme Otto, dann baden wir ihn und ich bringe ihn ins Bett. Zwischen 19 und 20 Uhr komme ich dann wieder ins Wohnzimmer - an guten Abenden ist dann etwas Zeit für uns, aber vor allem werden dann die nötigsten Haushaltsarbeiten erledigt. Und meist wacht Otto nochmal auf und ich muss wieder mehr oder weniger lange hoch.
Das heißt, ich habe immer "Dienst" auf die eine oder andere Weise und ich komme unter der Woche auch nicht aus dem Haus. Und mir war es immer so wichtig, raus zu kommen um meinen Kopf freizukriegen. Am Wochenende ist es nur bedingt anders. Otto kann etwa zwei Stunden wach sein, dann nimmt ihn Ellie wieder zu einem Nickerchen. Das dauert dann etwa eine Stunde, manchmal bis zu drei, und er schläft etwa dreimal pro Tag. Das heißt, ich habe drei Gelegenheiten, Dinge zu erledigen, und rausgehen kommt da häufig nicht unter.

Manchmal kriegt man einfach nur die Krise wieso das Kind einfach nicht schlafen will egal wie vedammt müde und fertig es ist. 
Manchmal scheint die Nacht ein tiefer, schwarzer Tunnel weil man sich problemlos vorstellen kann, dass er niemals schlafen wird und wir auch nicht. Ellies Hände sind immer noch kaputt sodass nur ich ihn nacht halten kann wenn er wieder in den Schlaf gewiegt werden muss. Aber ich habe angefangen dabei im Stehen einzuschlafen und das ist nicht mehr sicher. Manchmal bin ich zu Arbeitsbeginn schon länger wach gewesen als ich überhaupt geschlafen hatte. Und wenn man dann eine ganze Woche nicht aus dem Haus gekommen ist, scheint das Leben allgemein ein großes Hamsterrad zu sein. 

Ohne Zweifel deswegen merke ich auch, dass mein Tagebuch wieder die Funktion einnahm, die es ursprünglich auf der Farm hatte: um mal mit jemandem zu "reden", wenn man nie wen sieht. Denn irgendwo muss man seinen Stress ablassen, aber Ellie hat das nicht verdient, die hat selbst zu tun.

Jetzt, nach vier Monaten, kommen auch nach und nach all die Lügen heraus, die Ellie haben so verzweifeln lassen. Es dringt immer mehr durch, dass der Großteil der anderen Eltern aus unserem Kurs dieselben Problem haben. Angstzustände und Pillen. Und jeder scheint gedacht zu haben, nur sie seien betroffen. Jede Mutter muss sich monatelang fertiggemacht haben. Sich entweder an sinnlose Regeln gehalten haben oder es geheim gehalten, wenn sie es nicht taten. Völlig unnötiges Elend.

Otto dagegen geht es vermutlich wunderbar. Ein echter Wonneproppen. Meist sehr fröhlich, lacht viel, mag Menschen. Erkennt zumehmend Dinge und man sieht, wie sein Geist das erstmal verarbeitet. Alles wandert derzeit in seinen Mund. Vor kurzem hat er plötzlich verstanden, dass meine Brille nicht zu mir gehört, seitdem muss ich sie beschützen. Am meisten beschäftigen ihn Blätter an den Bäumen und wie das Licht da durchspielt. Er hat jetzt aber auch mehr Schiss vor den Katzen, weil er vermutlich versteht, dass die nicht einfach passive Objekte sind. Während er anfangs Linkshänder zu sein schien benutzt er inzwischen beide Arme. Wir haben begonnen, Gutenacht-Geschichten und Lieder in seine Abendroutine einzubauen, vermutlich mehr für uns als für ihn. Sein Schlaf hat sich die letzten Tage verbessert. Ich kann ihn wieder direkt in seinem Bettchen zum Schlafen bringen, d.h. ich muss ihn nicht mehr soviel tragen. Nachts wacht er häufiger auf, aber auch da schläft er schneller wieder ein.

Samstag, 18. Juli 2020

Ottoloser Monolog

Um zu beweisen, dass sich mein Leben nicht allein und ausschließlich um mein Kind dreht habe ich mal eine Liste von anderen Dingen zusammengestellt.

Ich höre seit einiger Zeit mit Begeisterung den Sender Heimat des Bayerischen Rundfunks. Ursprünglich nur als Gaudi gedacht um Otto die volksmusikalische Seite seines kulturellen Erbes zu zeigen. Aber die Musik wird von wirklich interessierten Leuten ausgewählt und so war ich noch nie so detailliert über das bayerische Tagesgeschehen auf dem Laufenden. Nicht zuletzt geht mein eingesperrter Geist dabei zurück an die Woche in München bei Friedemann 2016.

Neulich habe ich mir ein richtiges, ausgewachsenes Brettspiel gekauft. Und zwar auf Ellies Initiative, die sich ja eigentlich nichts dafür interessiert. Die Isolation macht komische Sachen mit uns. Bei unseren wenigen gemeinsamen Besuchen im Spielecafe hatte ihr ein Spiel gefallen, in dem man gemeinsam eine Geschichte entdeckt. Und wo wir nun an guten Abenden ein, zwei Stunden für uns haben, wäre es schön da gemeinsam zu machen. Zu meiner großen Erleichterung hat das Spielecafe die Quarantäne überlebt und mir den Nachfolger empfohlen. Nicht, dass ich ernsthaft damit rechne, dass wir es tatsächlich spielen werden. Aber in diesen Zeiten ist Konsum schöner Dinge tatsächlich eine Erleichterung.

... unter dem Gesichtspunkt habe ich meine Hutsammlung um eine (Plastik-)Pickelhaube erweitert.

Ich bin einmal baden gegangen - zum ersten Mal seit dem Anbaden im April. Es war glorreich, und warm, und sommerlich; sonst komme ich diesen Sommer ja kaum aus dem Haus.

Im Garten

Farnsporen

Ich komme ab und zu wieder zum mikroskopieren. Durch die Umstände habe ich unseren Garten so gut wie nie zuvor kennen gelernt und Blätter und Blüten angeschaut.





Ellie hat ein neues Kleid bekommen, von Kasia mit Hasenglöckchen bemalt und von einer befreundeten Schneiderin geschnitten. Wer sich erinnert, vor vielen Jahren hatte ich ihr schonmal so eins geschenkt, damals mit Mohnblumen drauf. Es war wieder ein Risiko, dass die Schneiderin nicht selbst messen konnte - aber es passt perfekt und ist eine Augenweide.


Mittwoch, 8. Juli 2020

Mein Geburtstag

Auch mein Geburtstag fand natürlich unter besonderen Bedingungen statt. Mein erstes Geschenk war ein richtiges Frühstück - Ellie hat mir den großen Tisch gedeckt, ordentlich, als wäre es Sonntag. Ein kompletter Käsekuchen stand da, aus dem besten Cafe der Stadt. Dabei konnte ich in Ruhe Karten lesen und Muttis Paket auspacken. Dann nahm Ellie Otto für sein erstes Nickerchen des Tages ins Schlafzimmer und ich hatte mal richtig Zeit und Muße zum essen.
Nachmittag gab mir Otto ein Geschenk und schlief auf einmal drei Stunden lang. Dadurch konnte ich - schlafen! Und zumindest mit ein paar Leuten telefonieren.
Mein einziger konkreter Wunsch war es gewesen, endlich ein lange geplantes Picknick an einem bestimmten Ort der South Downs zu machen (diesem hier um genau zu sein). Das ist nicht weit von der Hubertuskapelle, auf einem Hügel mit Blick ins Flachland, unter richtig alten Erlenbäumen, die gerade jetzt voller Laub standen. Mit Otto konnten wir nicht lange bleiben, aber es hat mir einfach Freude bereitet, den Wind im Laub zu hören und Otto die Landschaft und Schafe und Pferde zu zeigen, die er natürlich alle nicht wahrnehmen kann, aber eines Tages werde ich ihm das alles nahe bringen. Und dazu hatten wir Plätzchen und Rhabarbersaft aus Muttis Paket.
Das heißt, ein weiterer konkreter Wunsch wurde mir noch erfüllt: Oma schickte mir Den kleinen Häwelmann.

Schließlich entwickelt sich Otto Schlaf momentan ganz fabelhaft. Der Schlafrückfall war eigentlich nicht so schlimm, sollte er denn vorbei sein. Aber was auch immer uns noch bevorsteht: tagsüber hat er letztens auffällig häufig zwei, drei Schlafzyklen geruht und am Abend meines Geburtstags habe ich es zum ersten Mal geschafft, ihn direkt ins Bettchen zu legen und dort durch Streicheln und Singen einschlafen zu lassen. Vorbei scheinen die Zeiten wo ich ihn Ewigkeiten schultern muss und er dann vielleicht doch wieder aufwacht, wenn ich ihn ins Bett lege. Er schreit auch nicht und es muss für ihn viel besser sein. Momentan sind eigentlich alle unsere großen Probleme gelöst, Verstopfung und der Schlaf. Otto ist ein fröhliches Kind, das viel lacht und sich freut andere Leute zu sehen. Ich habe abends keine Angst mehr ihn in sein Bettchen zu bringen, auch wenn der neue Methode länger dauert. Und ohne diese Angst erlaube ich mir endlich, in die weitere Zukunft zu blicken, auf alles was wir Otto zeigen und beibringen wollen, wie wir ihm Freude machen werden. Die letzten Monate waren wir notwendigerweise sehr pragmatisch eingestellt und haben maximal bis zum nächsten Tag gedacht. Jetzt kann ich mir langsam leisten, etwas sentimental zu werden. Da fällt eine Menge von mir ab, auch wenn es natürlich Rückschläge geben wird, aber man hat dieses Bedürfnis endlich mal loszulassen.

Unser Alltag wird schließlich noch dadurch erleichtert, dass ich seit Kurzem von einer Sonderregelung meines Arbeitgebers profitiere und pro Tag eine Stunde weniger arbeiten muss um mich um Otto zu kümmern. Das heißt, dass ich Ellie zur Mittagszeit eine Pause geben kann.

Zuletzt ein Notiz an alle die ich seit Ottos Geburt vernachlässigt habe: ich bin nicht für immer aus der Welt. Die Zeit war hart und eine Weile lang hatte ich einfach nicht die Zeit und auch nicht die Nerven mich regelmäßig zu melden. Es wird jetzt besser. Und ich bin mir auch bewusst, dass ich sehr lange hier drüben bin und es tut mir sehr weh, gerade jetzt, dass ich nicht regelmäßig und einfach nebenbei Euch alle besuchen kann. Das sind Entscheidungen die ich durchaus bewusst vor vielen Jahren getroffen habe und sich ja jetzt auch als richtig erweisen; der Preis dafür war mir klar, aber das heißt nicht, dass ich ihn nicht spüre. In meinem isolierten Zustand stelle ich mir ganz konkret vor, Brandenburg im Mai zu sehen, die Oder langzuradeln, einen Ausflug ins Münchener Umland zu machen, über den Ziegenwerden zu laufen, durch Leipzig zu laufen oder im Winkel Sonntags zu frühstücken. Ich habe dafür erstmal keine Lösung, außer viel zu schreiben und bald wieder regelmäßig zu telefonieren. Tut mir leid.

Otto in seinem zukünftigen Wandergebiet



Otto oben auf

Donnerstag, 2. Juli 2020

Oh Bot oh Bot

Kaum hatte ich Ottos besseres Schlafen beschrieben, da ging die gefürchtete Schlafregression. Das heisst er vergisst das wenige, was er bisher übers Schlafen gelernt hatte. Nachts tobt er in seinem Bett rum wie es nie gesehen habe. Rollt wild von links nach rechts, tritt mit beiden Beinen um sich, krabbelt mit ihnen die Wand des Bettchens hoch, singt vor sich hin. Wir haben fast Depression bekommen dass jetzt auch noch die Nächte schwierig geworden sind, bis wir gemerkt haben: der schläft durch das alles durch! Am dritten Tag haben wir nämlich angefangen, ihn abends allein zu lassen, nachdem er im Schlafzimmer eingeschlafen ist. Wir beobachten ihn dann über eine Kamera mit Mikrofon. Da haben wir das gesehen, wie sein Gesicht selbst bei den wildesten Sprüngen mit geschlossenen Augen vor der Kamera lag. Und manchmal waren sie sogar offen und man wusste trotzdem, dass er schläft. Wahnsinn. Aber zumindest ich konnte mit dem Wissen viel besser schlafen.

Im Gegenzug sind seine Nickerchen am Tage etwas länger - ganze 45 Minuten. Und in den letzten Tagen hat er plötzlich ab und zu zwei Stunden und mehr geschlafen. Ich kann gar nicht ausdrücken was für eine Erleichterung das ist.

Dann verschlimmerte sich Ottos Verstopfungen - ursprünglich richtig schlimm, dann unerwünscht aber unter Kontrolle, waren sie plötzlich schwieriger als je zuvor. Aber dann bekamen wir einen guten Tip: vorgemischte Milch hat das Problem vollständig gelöst.

Insgesamt wird Otto einfacher. Man kann immer mehr mit ihm machen. Er erkennt Dinge, reagiert auf uns, man kann mit ihm spielen; kurzum, wir haben mehr von den angenehmen Seiten eines kleinen Kindes. Ganz besonders liebt er es mit uns zu tanzen. Einer hält ihn auf den Knien, mit dem Gesicht zum anderen und dann schunkeln wir gemeinsam. Am meisten mag er den Reim von den fahrenden Damen.

Und schließlich erlaubt uns die Kamera, unsere Abende zum ersten Mal seit Ottos Geburt zusammen verbringen zu können. Das war solch eine Erleichterung, nach so langer Zeit, dass ich es zuerst gar nicht ganz fassen konnte. Ich hätte fast geheult ob der ungewohnten Freiheit. Sonst komme ich den ganzen Tag nicht aus dem Haus. Da habe ich mich erstmal in den Garten gestellt, und am nächsten Abend bin ich zum Meer gejoggt, einfach so.
Wie lang dieser Schlafrückfall dauert wissen wir noch nicht. In jedem Fall scheinen bereits die Zähne zu kommen. Da machts dann auch keinen Unterschied mehr.

Am 27. Juni kamen Ellies Mutter und Schwester den Nachmittag über zu Besuch. Und am 28. Juni sind wir mit Otto zur Hubertuskapelle gefahren, wie viele andere Leute auch, die nach der Quarantäne wieder in die Natur wollen. Ich war wiederum ganz überwältigt von der Fülle, die die Natur in unserer Abwesenheit angenommen hat. Immer wieder fühlt es sich für einen Moment irreal an, so als könnte es nicht wahr sein, nachdem man soviel Zeit in seinem Haus und seinem eigenen Kopf verbracht hat. Nach fast vier Monaten zweifacher Ausgangssperre macht man sich seine ganz eigene Welt im Kopf. Man träumt sich auf Ausflüge und Reisen, malt sich aus wie man Otto Orte zeigt und Dinge beibringt. Es ist eine komische Zeit mit ihren ganz eigenen Gefühlen. Besonders intensiv wandert mein Inneres Auge zu den Orten aus Familie und Freunden, wo mir klar ist, dass ich jahrelang nicht mehr hinkommen werde.

Auf großer Fahrt
Bei St Hubertus